Der Buddhismus – eine gottlose Religion?

Bild von randomhh auf Pixabay
Was versteht man unter ‚Leerheit‘? In welcher Beziehung steht die Leerheit zu den Phänomenen in Raum und Zeit? Inwiefern ist der Buddhismus eine atheistische Religion?

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung

Den einen Buddhismus gibt es nicht. Es gibt vielmehr verschiedene Richtungen bzw. „Fahrzeuge“ (Hinayana, Mahayana, Vajrayana) und innerhalb dieser Richtungen verschiedene Schulen, die zu zentralen Themen teilweise recht unterschiedliche Ansichten haben und manchmal auch zentrale Begriffe unterschiedlich verstehen. Es ist deshalb schwierig, Vergleiche anzustellen oder generelle Aussagen zu machen.

Gemeinsam ist allen Richtungen und Schulen, dass sie Pali-Kanon (Tipitaka) als Grundlage ansehen und gewisse Grundsätze teilen (z.B. die Vier Edlen Wahrheiten, den Edlen Achtfachen Pfad, die Drei Universellen Wahrheiten und die Fünf Gebote)1. Gemeinsam ist ihnen auch, dass sie den Geist von leiderzeugenden Verblendungen wie Ignoranz, Anhaftung, Ablehnung, Stolz und Eifersucht befreien und heilsame Qualitäten wie liebevolle Güte, Mitgefühl, Grosszügigkeit, Gleichmut und Weisheit kultivieren möchten. Das Endziel wird in der Erreichung der Buddhaschaft (Hinayana: Arhatschaft) bzw. des Nirvana gesehen.

NB. Die folgende Auseinandersetzung bezieht sich einerseits auf die Sicht des indischen Philosophen Nāgārjuna (» Wikipedia) sowie derjenigen des Dzogchen, einer auch im Westen verbreiteten Schule des Tibetischen Buddhismus (» Wikipedia). Die an dieser Stelle getätigten Aussagen lassen sich nicht ohne weiteres auf alle buddhistischen Richtungen und Schulen übertragen.

Das Konzept der Leerheit (śunyata) bei Nāgārjuna

Wer war Nāgārjuna?

Nāgārjuna war ein buddhistischer Philosoph und Lehrer, der im 2. / 3. Jh. n. Chr. in Indien gelebt und die buddhistische Philosophie nachhaltig geprägt hat. Er war ein Vertreter der Schule des „Mittleren Weges“ (mādhyamaka). Sein wichtigstes Werk waren die   „Grundlegenden Merkverse des Mittleren Weges“ (mūla-madhyamaka-kārikā – MMK). Nāgārjuna ist als grosser Denker anerkannt. Er hat in Asien den Stellenwert, den ein Descartes oder Kant in der europäischen Philosophie haben.

Die Philosophie von Nāgārjuna ist als Reaktion auf die zwei Extrempositionen des Eternalismus (sarvam asti: alle Dinge existieren real) und des Nihilismus (sarvaṃ nāsti: nichts existiert) zu verstehen.

Relative und ultimative Wahrheit

Nagārjuna unterscheidet zwischen einer relativen bzw. konventionellen (saṃvṛti-satya) und einer ultimativen (paramārtha-satya) Wahrheit bzw. Wirklichkeit.

Die konventionelle Wahrheit (saṃvṛti-satya) beschreibt die Welt, wie sie uns im normalen, nicht-erleuchteten Bewusstseinszustand erscheint. In dieser Sicht nehmen wir die Dinge als eigenständig existierend und substanzhaft wahr und belegen sie mit Vorstellungen und Begriffen, die im täglichen Leben nützlich sind.

Auf der Ebene der ultimativen Wahrheit (paramārtha-satya) hingegen wird die wahre Natur aller Dinge erkannt – jenseits aller Begriffe, Konzepte und dualistischen Vorstellungen von Subjekt und Objekt, Sein und Nicht-Sein, Leben und Tod. Sie stellt eine Realität dar, die zwar grundsätzlich erfahrbar ist, nicht aber in Konzepte gefasst und sprachlich ausgedrückt werden kann. Aus der Perspektive der ultimativen Wahrheit erscheint die konventionelle Wahrheit wie eine traumhafte Illusion. Die direkte Erkenntnis bzw. Erfahrung der ultimativen Wahrheit führt zur Befreiung von Leiden bzw. zur Erleuchtung. 

Was verstand Nāgārjuna unter „Leerheit“?

Um zu begreifen, was Nāgārjuna unter „Leerheit“ versteht, müssen wir uns erst mit seiner Definition des Begriffs „Existenz“ auseinandersetzen: Unter einer „realen Existenz“ (svabhāva) verstand Nāgārjuna eine Entität mit einer Eigennatur, die aus sich selbst heraus entstanden ist sowie ewig, unveränderlich und von allen anderen Entitäten unabhängig existiert. In der mūla-madhyamaka-kārikā (MMK) zeigt Nāgārjuna mittels logischer Ableitungen auf, dass so verstandene reale Entitäten nicht existieren können bzw. dass alle Dinge bedingt entstanden sein müssen und kein eigenständiges, unabhängiges Wesen (svabhāva) haben können. Diese Eigenschaft der Dinge wird als „Leerheit“ (śūnyatā) bezeichnet, nämlich „leer“ (śūnya) von Eigennatur.

Nach buddhistischer Lehre sind Phänomene in Raum und Zeit demnach insofern „leer“, als sie keine unabhängige und dauerhafte Eigennatur aufweisen. Sie bestehen nicht permanent, aus sich selbst heraus und unabhängig von allem anderen. Sie haben vielmehr den Charakter von vergänglichen, traumhaften Illusionen. Alles ist aus verschiedenen, sich ständig neu zusammenfindenden Komponenten zusammengesetzt und daher der Vergänglichkeit und Veränderung unterworfen. Dabei entstehen und vergehen Erscheinungen nicht aus sich selbst heraus, sondern aufgrund des Zusammentreffens von Faktoren oder Bedingungen, die die jeweilige Erscheinung erst ermöglichen. Das gilt auch für den Menschen. So wird nicht nur der Körper, sondern auch das menschliche „Selbst“ als nicht von dauerhafter und substantieller Natur betrachtet.

Die Leerheit der Leerheit

Die Leerheit darf gemäss Nāgārjuna nicht als eine absolute oder eigenständige Realität betrachtet werden, denn würde man die Leerheit als eine Art von letztendlicher Realität oder Essenz ansehen, würde dies dem Konzept der Leerheit widersprechen, dass alles bedingt entstanden ist und kein eigenständiges, unabhängiges Wesen (svabhāva) hat. Daher ist auch die Leerheit leer von inhärenter Existenz. Die Leerheit ist auch kein „Nichts“, denn ein angenommenes „Nichts“ wäre ja auch ein „Etwas“ und somit als ein Sein zu qualifizieren. Da die Leerheit selbst kein realer Gegenstand ist (sondern selbst leer ist), kann man nicht sagen, dass Leerheit existiert oder nicht existiert. Somit gibt es weder Sein noch Nichtsein, sondern nur die allen Phänomenen zugrunde liegende Leerheit. 

Die ultimative und die konventionelle Realität sind Nāgārjuna zufolge beide gleich „leer“, denn die Unterscheidung zwischen einer konventionellen und ultimativen Realität wäre ein dualistischer Standpunkt. Nāgārjuna geht davon aus, dass alles sowohl existiert als auch nicht existiert, dass nichts existiert oder nicht existiert. Zu realisieren, dass es letztlich keinen Unterschied zwischen konventioneller und ultimativer Realität gibt, ist der Eintritt in die Sicht der Non-Dualität.

Implikationen

Eine zentrale Implikation des Konzepts ist die Ablehnung der Existenz sowohl eines Absolutum als auch einer ewigen Seele bzw. eines Selbst (ātman). Damit grenzt sich Nāgārjuna von hinduistischen Schulen ab, die in aller Regel sowohl ein Absolutum (brahman) als auch ein Selbst (ātman) kennen.

Diskussion

Die Philosophie von Nāgārjuna beruht auf einer engen, spezifischen Definition von zentralen Begriffen und enthält innere Widersprüche sowie teilweise fehlerhafte Logik. So kann z.B. anhand der Verwendung der Sanskrit-Begriffe „svabhāva“ und „parabhāva“ in der MMK aufgezeigt werden, dass beide Begriffe je fünf verschiedene Bedeutungen haben können und dass Nāgārjuna sie nicht immer einheitlich verwendet, oft nicht einmal innerhalb des gleichen Verses (siehe Hayes, 1994). Zudem definiert Nāgārjuna den Begriff „svabhāva“ auf eine sehr spezifische und nicht gebräuchliche Art. Durch solche „Tricks“ gelingt es ihm, intuitiv schwer nachvollziehbare Aussagen logisch herzuleiten. Verschiedene Definitionen und Sätze von Nāgārjuna enthalten zudem innere Widersprüche.

Nāgārjuna verwirft letztlich alle philosophischen Sichten, einschliesslich seiner eigenen. Es kann sein, dass er so verstanden werden muss, dass er seine Schüler dazu zwingen will, im Sinne eines mittleren Weges zwischen Eternalismus und Nihilismus alle Konzepte aufzugeben und offen für eine transzendente, non-duale Sicht jenseits aller Begriffe zu werden.

Leerheit und Buddhanatur im Tibetischen Buddhismus

Einzelne Schulen bzw. Lehrer aus der tibetisch-buddhistischen Tradition vermitteln ein mindestens auf den ersten Blick von der reinen Lehre Nāgārjunas und seiner Nachfolger abweichendes Verständnis von „Leerheit“ und „Selbst“. 

Verständnis von „Leerheit“ als „Urgrund“

Im Tibetischen Buddhismus werden die Phänomene ebenfalls als „leer“ im Sinne von Nāgārjuna angesehen. Der für den Sanskrit-Begriff „śūnyatā“ („Leerheit“) verwendete tibetische Begriff „tongpa-nyi“ hat jedoch auch noch eine andere Bedeutung. So wird „Leerheit“ manchmal auch als „Wahrheitsraum“, „Urgrund“ oder „Natur des Geistes“ bezeichnet, als „ungeboren“, „unvergänglich“, „von Bedingungen und Ursachen unbeeinflusst“, „unzerstörbar“, „ohne Zentrum und ohne Begrenzung“, ihrer wahren Natur nach Liebe und Mitgefühl. 

„Die Grundbedeutung von shunya ist ’null‘. Es bezeichnet einen unendlichen offenen Raum oder Urgrund, der allen Phänomenen ermöglicht, in Erscheinung zu treten. Das tibetische tongpa bedeutet ‚leer‘, aber keineswegs im Sinne eines ‚Nichts‘ oder ‚Vakuums‘, sondern als Grundlage jeglicher Erfahrung, die sich jeder sinnlichen Wahrnehmung, Beschreibung, Benennung oder ’sauberen‘ begrifflichen Einordnung entzieht. Vielleicht liesse sich die tiefe Bedeutung des tibetischen Begriffs mit ‚unfassbar‘ oder ‚unnennbar‘ besser wiedergeben. Die Sanskritsilbe ‚ta‘ bzw. die tibetische Silbe ‚nyi‘ haben für sich genommen keine eigenständige Bedeutung, doch wenn man sie an ein Substantiv bzw. Adjektiv anhängt, erhält dieses dadurch einen Unterton von ‚Ermöglichung‘ oder ‚Potenzial‘. […] Tatsächlich ist in den Lehren, wenn es um Leerheit geht, immer von einem unendlichen offenen Raum die Rede, in dem alle Dinge entstehen, sich wandeln, vergehen und wieder erscheinen können. […]  Auf der grundlegenden Ebene unseres Seins sind wir ‚leer‘ von eindeutig bestimmbaren Merkmalen.“

Tsoknyi Rinpoche, Öffne Dein Herz und lausche – den inneren Funken entdecken, Seiten 67ff

Ähnliche Aussagen finden sich auch bei anderen Vertretern des Dzogchen, wie z.B. Choegyal Namkhai Norbu, Sogyal Rinpoche und Yongey Mingyur Rinpoche. 

Das Tathāgatagarbha-Sūtra: Anātman vs. Buddhanatur

Bereits der Buddha lehrte, dass es kein festes, dauerhaftes Selbst gibt (Konzept von anātman oder Nicht-Selbst), wobei er unter dem Selbst eine Kombination von fünf Aggregaten (skandhas) verstand: Körper, Empfindung, Wahrnehmung, mentale Zustände und Bewusstsein. Diese fünf Aggregate sind der Lehre des Buddha gemäss in ständiger Veränderung und vermitteln gemeinsam die Illusion eines beständigen Selbst, wobei jedoch kein Teil davon als ein eigenständiges, unabhängiges Ich existiert. Allerdings lehnte der Buddha auch die nihilistische Vorstellung ab, dass nach dem Tod nichts mehr existiert.

Im 3. Jh. n. Chr. wurde in Indien (Āndhra), vermutlich durch die Mahāsāṃghika-Schule des Buddhismus, das tathāgatagarbha-sūtra verfasst. In diesem Sutra wird anhand von 9 Gleichnissen dargelegt, dass alle fühlenden Lebewesen im innersten Kern die sog. „Buddhanatur“ in sich tragen.

Die Lehre hat sich im Mahayana- und Vajrayana-Buddhismus verbreitet, u.a. in den Dzogchen- und Mahamudra-Lehren in Tibet. Im Tibetischen Buddhismus wird die Buddhanatur auch als die „Natur des Geistes“ oder als „klares Licht ursprünglichen Gewahrseins“ bezeichnet und mit dem Dharmakaya gleichgesetzt. Die Buddhanatur wird dabei als „beständig, fest und ewig“ (nitya, dhruva, sāsvata) beschrieben (siehe u.a. » Wikipedia).

Buddhanatur vs. Leerheit

Eine als beständig, fest und ewig angenommene Buddhanatur steht scheinbar im Widerspruch zur Philosophie der Leerheit, nach der es so etwas wie ein beständiges, festes und ewiges Selbst nicht geben kann. Das Konzept der Buddhanatur geht jedoch davon aus, dass sich die Lehre von der Leerheit (śūnyatā) der Dinge und vom Nicht-Selbst (anātman) auf bedingt Entstandenes bezieht. Zudem wird die Buddhanatur nicht im Sinne einer individuellen und eigenständigen Seele verstanden. Damit entspricht das Konzept der Buddha-Natur nicht dem Konzept einer „realen Existenz“ (svabhāva) im Sinne von Nāgārjuna bzw. einer Entität mit einer Eigennatur, die aus sich selbst heraus entstanden ist sowie ewig, unveränderlich und von allen anderen Entitäten unabhängig existiert.

Das Konzept von Anātman aus der Sicht des Vedānta

Kritiker aus vedantischen Traditionen machen geltend, dass das Anātman-Konzept von der Buddhistischen Philosophie missverstanden wurde. Aus der Perspektive des Advaita Vedānta ist das Selbst (ātman) identisch mit dem höheren, spirituellen Selbst bzw. letztlich der höchsten Realität (brahman). In der Vorstellung des Advaita Vedānta existiert das Selbst somit jenseits der fünf Skandhas, die Buddha als für das Selbst relevant ansieht.

Während die Vorstellung einer eigenständigen, ewigen Seele eine eternalistische Sicht darstellt und zudem in Widerspruch zur Philosophie der Leerheit steht, birgt das Anātman-Konzept die Gefahr des Nihilismus. Die Vertreter vedantischer Traditionen argumentieren, dass wenn es kein Selbst gäbe, dies die Vorstellung fördern könnte, dass nichts von Bedeutung sei. Dies wiederum könnte zu einer Lebensauffassung führen, in der ethische und moralische Werte an Bedeutung verlören.

Das Schweigen des Buddha

Der Überlieferung nach soll sich der Buddha geweigert haben, zu 14 konkreten Fragen Stellung zu nehmen. Es geht hier um Fragen, wie diejenige, ob die Welt ewig oder nicht ewig ist, ob sie Grenzen hat oder nicht, ob das Leben identisch ist mit dem physischen Körper, ob jemand, der die Wahrheit kennt, nach dem Tod weiterexistiert oder nicht, ob das Leiden von einem selbst verursacht ist oder nicht.

Bekannt ist z.B. eine Anekdote aus dem Aggi-Vacchagotta Sutra, wo der Wanderer Vacchagotta den Buddha fragt, ob das Selbst existiert. Da der Buddha auf diese Frage hin schwieg, fragte Vacchagotta den Buddha, ob das Selbst nicht existiert. Der Buddha schwieg auch bei dieser Frage. Gegenüber seinem Begleiter Ananda begründete der Buddha sein Schweigen anschliessend wie folgt: Hätte er die Existenz eines Selbst bestätigt, hätte er den Glauben an die Ewigkeit (Eternalismus) unterstützt, hätte er die Existenz eines Selbst abgelehnt, hätte er eine nihilistische Position unterstützt.

Eine plausible Erklärung für das Schweigen des Buddha zu den 14 Fragen ist die, dass der Buddha erkannt hat, dass er seine intuitive Einsicht in die ultimative Wahrheit nicht in Worte und damit auch nicht in Konzepte fassen kann und deshalb lieber geschwiegen hat, als mit Symbolen und Metaphern zu arbeiten, die leicht missverstanden werden können. Zudem gibt es Indizien dafür, dass der Buddha der Ansicht war, dass seine Anhänger ihre Energie besser in die Erkenntnis der Vier Edlen Wahrheiten und den Achtfachen Pfad zur Überwindung des Leidens investieren, anstatt metaphysischen Spekulationen nachzuhängen.

Schlussfolgerungen

Kennt der Buddhismus ein Absolutum?

Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, wie der Begriff „Absolutum“ definiert ist und auf welche der verschiedenen buddhistischen Schulen man sich bezieht.

Gemäss offizieller buddhistischer Doktrin existieren weder ein Absolutum noch ein Selbst – dies in  Abgrenzung zu hinduistischen Schulen und deren Konzepten von brahman und ātman. Das Konzept der „Buddhanatur“ sowie das Verständnis von „Leerheit“ als „Urgrund“ zumindest in einzelnen Schulen des Tibetischen Buddhismus lassen jedoch eine differenziertere Interpretation zu. Das Zitat von Tsoknyi Rinpoche weiter oben zeigt, dass einzelne buddhistische Schulen „Leerheit“ auch beschreiben lässt als „Grundlage jeglicher Erfahrung, die sich jeder sinnlichen Wahrnehmung, Beschreibung, Benennung oder ’sauberen‘ begrifflichen Einordnung entzieht“. Weiter stellt Tsoknyi Rinpoche fest, dass „in den Lehren, wenn es um Leerheit geht, immer von einem unendlichen offenen Raum die Rede [ist], in dem alle Dinge entstehen, sich wandeln, vergehen und wieder erscheinen können.“ Das kommt den Aussagen von Mystikern und Gelehrten anderer Religionen zum Absolutum nahe.

Wie andernorts (» Die Rede von Gott) festgestellt, liegt das Absolute jenseits aller menschlicher Vorstellungen und jenseits alles Denkbaren und lässt sich deshalb nicht in Konzepte bzw. Worte fassen. Insofern ist die Schlussfolgerung von Nāgārjuna, wonach es ein Absolutum oder ein Selbst in seinem Verständnis des Begriffs „Existenz“ nicht gibt, zwar logisch korrekt. Das muss aber nicht bedeuten, dass es kein Absolutum im Sinne eines unbeschreibbaren Urgrunds allen Seins geben kann.

Das Beispiel zeigt (einmal mehr), dass der Versuch, die ultimative Realität mit einem Werkzeug der konventionellen Realität, nämlich der menschlichen Sprache, erfassen zu wollen, problematisch ist. Ebenso problematisch ist jedoch, etwas als inexistent zu bezeichnen, nur weil es sich nicht in durch menschliche Sprache abgebildete Konzepte fassen lässt. Insofern sind die auf der Erfahrung jahrelanger Meditationspraxis basierenden Aussagen eines Yogis oder Mystikers vermutlich aussagekräftiger, als die auf rein logischen Überlegungen basierenden Schlussfolgerungen eines Philosophen.  

Ist der Buddhismus eine Religion?

Es gibt selbst innerhalb der buddhistischen Gemeinschaft Stimmen, die den Buddhismus nicht als Religion, sondern als (atheistische) Lebensphilosophie sehen. Dazu ist folgendes anzumerken:

  • Ob der Buddhismus als Religion anzusehen ist, hängt von der Definition des Begriffs „Religion“ ab. Es existiert jedoch keine allgemeingültige Definition des Begriffs. Wird Religion im Sinne einer substanzialistischen Definition verstanden, so ist sie als ein Phänomen zu betrachten, das das Heilige, Transzendente bzw. Absolute zum Wesen hat und die Auseinandersetzung des Menschen mit dieser transzendenten Macht erklärt. Dies tut der Buddhismus insofern, als er das menschliche Heil durch die Überwindung leidverursachender Denk- und Handlungsmuster sowie die Einsicht in die ultimative Wahrheit anstrebt und dazu sowohl eine Philosophie als auch Verhaltensanweisungen und spirituelle Praktiken bereitstellt. Siehe auch » Definition des Begriffs ‚Religion‘
  • Ob der Buddhismus als atheistisch anzusehen ist, hängt davon ab, wie der Begriff „Atheismus“ definiert wird. Geht die Definition lediglich von der Ablehnung eines allwissenden und allmächtigen personalen Schöpfergottes aus, so könnte man den Buddhismus tatsächlich als atheistische Religion ansehen. Wird unter Atheismus jedoch die generelle Ablehnung eines transzendenten absoluten Prinzips verstanden, so ist der Buddhismus nicht per se als atheistische Religion anzusehen. Siehe dazu auch » Die Position des expliziten Atheismus

Literatur

Batchelor, S. (2002). Nāgārjuna. Verse aus der Mitte: eine buddhistische Vision des Lebens. Theseus-Verlag, 2002.

Choegyal Namkhai Norbu Rinpoche, Shane, John. Der Kristallweg: die Lehre über Sutra, Tantra und Dzogchen. Diederichs, 1989.

Garfield, Jay L., und Graham Priest. Nāgārjuna and the Limits of Thought. Philosophy East and West, 2003, 1–21.

Hayes, Richard P. Nāgārjuna’s appeal. Journal of Indian Philosophy 22, Nr. 4 (1994): 299–378.

Jones, Richard Hubert. The Nature and Function of Nāgārjuna’s Arguments. Philosophy East and West, 1978, 485–502.

Mabbett, Ian. The problem of the historical Nāgārjuna revisited. Journal of the American Oriental Society, 1998, 332–46.

Schmithausen, Lambert. Spirituelle Praxis und philosophische Theorie im Buddhismus. Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 57, Nr. 3 (1973): 161–86.

Sogyal Rinpoche, Geist, Thomas. Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben: Ein Schlüssel zum tieferen Verständnis von Leben und Tod. Otto Wilhelm Barth Verlag, 1994.

Tsoknyi Rinpoche, Swanson, Eric. Öffne dein Herz und lausche: Den inneren Funken entdecken. Arkana, 2012.

Weber-Brosamer, Bernhard, und Dieter M. Back. Die Philosophie der Leere. Nāgārjunas Mūlamadhyamaka-Kārikās. Übersetzung des buddhistischen Basistextes mit kommentierenden Einführungen, Wiesbaden, 1997.

Yongey Mingyur Rinpoche. Buddha und die Wissenschaft vom Glück. Goldmann Arkana, 2007.

Zimmermann, Michael, M.A. Tathagatagarbha. Universität Hamburg. 235. Page 2. Vortrag am 5.7.2000 an der Uni HH in der Reihe „Buddhismus in Geschichte und Gegenwart“ (» pdf)

Sarasin, Charles. Das Konzept der Leerheit in der Philosophie von Nāgārjuna. Literaturbericht zur Vorlesung Buddhismus im Frühlingssemester 2024. Eingereicht bei Prof. Dr. Angelika Malinar, Asien-Orient-Institut der Universität Zürich. (» pdf)
Zusammenfassung der verwendeten Literatur (» pdf)

Endnoten

1 Die gemeinsamen Grundsätze sind die folgenden:

1. Die Vier Edlen Wahrheiten

Die folgenden vier Grundsätze sind zentral für den Buddhismus:

  • Das Leben ist Leiden (Dukkha).
  • Das Leiden wird durch Verlangen und Anhaftung verursacht (Samudaya).
  • Ein Ende des Leidens ist möglich (Nirodha).
  • Der Weg zur Beendigung des Leidens führt über den Achtfachen Pfad (Magga).

2. Der Edle Achtfache Pfad

Der Pfad besteht aus acht Praktiken, um Weisheit, ethisches Verhalten und geistige Disziplin zu erlangen:

  • Rechte Sichtweise (Verstehen)
  • Rechte Intention
  • Richtige Rede
  • Rechtes Handeln
  • Rechter Lebenswandel
  • Rechte Anstrengung
  • Rechte Achtsamkeit
  • Rechte Konzentration

3. Die drei universellen Wahrheiten

Der Buddhismus geht von den folgenden drei universellen Grundwahrheiten aus:

  • Alles ist unbeständig (Anicca).
  • Leiden entsteht durch Anhaftung (Dukkha).
  • Es gibt kein festes Selbst oder Seele (Anatta).

4. Die Fünf Gebote bzw. ethischen Richtlinien

Buddhisten befolgen diese moralischen Grundsätze, um ein rechtschaffenes Leben zu führen:

  • Keine Lebewesen töten oder verletzen.
  • Nichtgegebenes nicht zu nehmen bzw. zu stehlen.
  • Unterlassen von sexuellem Fehlverhalten.
  • Nicht lügen oder unheilsam reden.
  • Verzicht auf Rauschmittel, die den Geist vernebeln.