Kennt der Buddhismus ein Absolutum?
Relative und ultimative Wahrheit
In der buddhistischen Philosophie wird zwischen einer relativen bzw. konventionellen (saṃvṛti-satya) und einer ultimativen (paramārtha-satya) Wahrheit bzw. Wirklichkeit unterschieden.
Die konventionelle Wahrheit (saṃvṛti-satya) beschreibt die Welt, wie sie uns im normalen, nicht-erleuchteten Bewusstseinszustand erscheint. In dieser Sicht nehmen wir die Dinge als unabhängig existierend und substanzhaft wahr. Wir verwenden Vorstellungen und Begriffe, die im täglichen Leben nützlich sind, z.B. „Person“, „Objekt“, „Zeit“ und „Raum“. In dieser Sicht sind auch Ethik/Moral, Mitgefühl und das Verständnis der karmischen Gesetze sinnvoll und notwendig.
Auf der Ebene der ultimativen Wahrheit (paramārtha-satya) hingegen wird die wahre Natur aller Dinge jenseits aller konzeptionellen Unterscheidungen und dualistischen Vorstellungen erkannt, nämlich, dass alle Dinge leer von inhärenter Existenz sind (siehe unten). Die ultimative Wahrheit ist jenseits der dualistischen Kategorien von Subjekt und Objekt, Sein und Nicht-Sein, Leben und Tod. Sie stellt eine Realität dar, die nicht durch sprachliche oder gedankliche Konstruktionen erfasst werden kann. Das Verständnis der ultimativen Wahrheit führt zur Befreiung von Leiden bzw. zur Erleuchtung. Erreicht wird dies u.a. durch Kontemplation und analytische Meditation. ↑
Das Konzept der Leerheit (śunyata) von Nāgārjuna
Wer war Nāgārjuna?
Nāgārjuna war ein buddhistischer Philosoph und Lehrer, der im 2. oder 3. Jh. n. Chr. in Indien gelebt hat. Er war ein Vertreter der Schule des „Mittleren Weges“ (Mādhyamaka). Sein wichtigstes Werk war „Grundlegende Merkverse des Mittleren Weges“ (Mūla-madhyamaka-kārikā – MMK).
Nāgārjuna ist als grosser Denker anerkannt. Er hat in Asien den Stellenwert, den ein Descartes oder Kant in der europäischen Philosophie haben.
Die Philosophie von Nāgārjuna ist als Reaktion auf die zwei Extrempositionen des Eternalismus (sarvam asti: alle Dinge existieren real) und des Nihilismus (sarvaṃ nāsti: nichts existiert) zu verstehen. ↑
Was versteht Nagārjuna unter „Leerheit“?
Um zu verstehen, was Nagārjuna unter „Leerheit“ versteht, müssen wir uns erst mit seiner Definition des Begriffs „Existenz“ auseinandersetzen: Unter einer „realen Existenz“ (svabhāva) verstand Nāgārjuna eine Entität mit einer Eigennatur, die aus sich selbst heraus entstanden ist sowie ewig, unveränderlich und von allen anderen Entitäten unabhängig existiert. In seinem Werk „Mūla-madhyamaka-kārikā“ (MMK) zeigt Nāgārjuna mittels logischer Ableitungen auf, dass so verstandene reale Entitäten nicht existieren können bzw. dass alle Dinge bedingt entstanden sein müssen und kein eigenständiges, unabhängiges Wesen (svabhāva) haben können. Diese Eigenschaft der Dinge wird als „Leerheit“ (śūnyatā) bezeichnet, nämlich „leer“ (śūnya) von Eigennatur. ↑
Nach buddhistischer Lehre sind Phänomene in Raum und Zeit demnach insofern „leer“, als sie keine unabhängige und dauerhafte Eigennatur aufweisen. Sie bestehen nicht permanent, aus sich selbst heraus, ewig und unabhängig von allem anderen. Sie haben vielmehr den Charakter von vergänglichen, traumhaften Illusionen. Alles ist aus verschiedenen, sich ständig neu zusammenfindenden Komponenten zusammengesetzt und daher der Vergänglichkeit und Veränderung unterworfen. Dabei entstehen und vergehen Erscheinungen nicht aus sich selbst heraus, sondern aufgrund des Zusammentreffens von Faktoren oder Bedingungen, die die jeweilige Erscheinung erst ermöglichen. Das gilt auch für den Menschen. Das menschliche „Selbst“ wird als nicht von dauerhafter und substantieller Natur betrachtet. ↑
Die Leerheit der Leerheit
Die Leerheit darf nicht als eine absolute oder eigenständige Realität betrachtet werden, denn würde man die Leerheit als eine Art von letztlicher Realität oder Essenz ansehen, würde dies dem Konzept der Leerheit widersprechen. Daher ist auch die Leerheit leer von inhärenter Existenz. Die Leerheit ist auch kein Nichts, denn ein angenommenes Nichts wäre ja auch ein Etwas und somit als ein Sein zu qualifizieren. Somit gibt es weder Sein noch Nichtsein, sondern nur die allen Phänomenen zugrunde liegende Leerheit. ↑
Die ultimative und die konventionelle Realität sind Nāgārjuna zufolge beide gleich „leer“. Die Unterscheidung zwischen einer konventionellen und ultimativen Realität wäre ein dualistischer Standpunkt. Zu realisieren, dass es letztlich keinen Unterschied zwischen konventioneller und ultimativer Realität gibt, ist der Eintritt in die Sicht der Non-Dualität. ↑
Implikationen der Philosophie der Leerheit
Eine zentrale Implikation des Konzepts ist die Ablehnung der Existenz sowohl eines Absolutum als auch einer ewigen Seele bzw. eines Selbst (ātman). ↑
Diskussion
Die Philosophie von Nāgārjuna beruht auf einer engen, spezifischen Definition von zentralen Begriffen und enthält innere Widersprüche sowie teilweise fehlerhafte Logik. Hayes zeigt anhand der Sanskrit-Begriffe „svabhāva“ und „parabhāva“ exemplarisch auf, dass beide Begriffe je fünf verschiedene Bedeutungen haben können und dass Nāgārjuna sie nicht immer einheitlich verwendet, oft nicht einmal innerhalb des gleichen Verses. Zudem definiert Nāgārjuna den Begriff „svabhāva“ auf eine sehr spezifische und nicht gebräuchliche Art. Durch solche „Tricks“ gelingt es ihm, intuitiv schwer nachvollziehbare Aussagen logisch herzuleiten. Verschiedene Definitionen und Sätze von Nāgārjuna enthalten zudem innere Widersprüche. Ein Beispiel dafür ist die Definition des zentralen Begriffs „svabhāva“ selbst: Für Nāgārjuna steht der Begriff für eine Entität, die frei von Bedingungen bzw. unabhängig, unveränderlich und nicht verursacht ist. Gleichzeitig behauptet Nāgārjuna, dass es nichts gibt, das nicht abhängig entstanden ist, d.h. so etwas wie „svabhāva“ kann es gemäss seiner eigenen Logik gar nicht geben. ↑
Wie andernorts (» Die Rede von Gott) festgestellt, liegt das Absolute jenseits aller menschlichen Vorstellungen und jenseits alles Denkbaren und lässt sich deshalb nicht in Konzepte bzw. Worte fassen. Insofern ist die Schlussfolgerung von Nāgārjuna, wonach ein Absolutum in seinem Verständnis des Begriffs „Existenz“ nicht existiert, nachvollziehbar. Der Versuch von Nāgārjuna, die ultimative Realität mit einem Werkzeug der konventionellen Realität, nämlich der menschlichen Sprache, erfassen zu wollen, ist hingegen problematisch. Es kann sein, dass Nāgārjuna so verstanden werden muss, als er seine Schüler dazu zwingen will, im Sinne eines mittleren Weges zwischen Eternalismus und Nihilismus alle Konzepte aufzugeben und offen für eine transzendente, non-duale Dimension jenseits aller Begriffe zu werden. ↑
Anātman vs. Buddhanatur
Das Tathāgatagarbha-Sūtra
Bereits der Buddha lehrte, dass es kein festes, dauerhaftes Selbst gibt (Konzept von anātman oder Nicht-Selbst), wobei er unter dem Selbst eine Kombination von fünf Aggregaten (skandhas) verstand: Körper, Empfindung, Wahrnehmung, mentale Zustände und Bewusstsein. Diese fünf Aggregate sind der Lehre des Buddha gemäss in ständiger Veränderung und vermitteln gemeinsam die Illusion eines beständigen Selbst, wobei jedoch kein Teil davon als ein eigenständiges, unabhängiges Ich existiert. Allerdings lehnte der Buddha auch die nihilistische Vorstellung ab, dass nach dem Tod nichts mehr existiert. ↑
Im 3. Jh. n. Chr. wurde in Indien (Āndhra), vermutlich durch die Mahāsāṃghika Schule des Buddhismus, das Tathāgatagarbha-Sūtra verfasst. In diesem Sutra wird anhand von 9 Gleichnissen dargelegt, dass alle fühlenden Lebewesen im innersten Kern die sog. „Buddha-Natur“ in sich tragen.
Die Lehre hat sich im Mahayana- und Vajrayana-Buddhismus verbreitet, u.a. in den Dzogchen- und Mahamudra-Lehren in Tibet. Im Tibetischen Buddhismus wird die Buddha-Natur auch als die „Natur des Geistes“ oder als „klares Licht ursprünglichen Gewahrseins“ bezeichnet und mit dem Dharmakaya gleichgesetzt. Die Buddha-Natur wird dabei als „beständig, fest und ewig“ (nitya, dhruva, sasvata) beschrieben (siehe u.a. » Wikipedia).
Buddha-Natur und Leerheit
Eine als beständig, fest und ewig angenommene Buddha-Natur steht scheinbar im Widerspruch zur Philosophie der Leerheit, nach der es so etwas wie ein beständiges, festes und ewiges Selbst nicht geben kann. Das Konzept der Buddha-Natur geht jedoch davon aus, dass sich die Lehre von der Leerheit (śūnyatā) der Dinge und vom Nicht-Selbst (anātman) nur auf bedingt Entstandenes bezieht. Zudem wird die Buddha-Natur nicht im Sinne einer individuellen und eigenständigen Seele verstanden. Damit entspricht das Konzept der Buddha-Natur nicht dem Konzept einer „realen Existenz“ (svabhāva) im Sinne von Nāgārjuna bzw. einer Entität mit einer Eigennatur, die aus sich selbst heraus entstanden ist sowie ewig, unveränderlich und von allen anderen Entitäten unabhängig existiert. ↑
Das Konzept von Anātman aus der Sicht des Advaita Vedanta
Kritiker aus vedantischen Traditionen machen geltend, dass das Anātman-Konzept von der Buddhistischen Philosophie missverstanden wurde. Aus der Perspektive des Advaita Vedanta ist das Selbst (ātman) identisch mit dem höheren, spirituellen Selbst bzw. letztlich der höchsten Realität (Brahman). In der Vorstellung des Advaita Vedanta existiert das Selbst jenseits der fünf Skandhas, die Buddha als für das Selbst relevant ansieht.
Während die Vorstellung einer eigenständigen, ewigen Seele eine eternalistische Sicht darstellt und zudem in Widerspruch zur Philosophie der Leerheit steht, birgt das Anātman-Konzept die Gefahr des Nihilismus. Die Vertreter vedantischer Traditionen argumentieren, dass wenn es kein Selbst gäbe, könnte dies die Vorstellung fördern, dass nichts von Bedeutung sei. Dies wiederum könnte zu einer Lebensauffassung führen, in der ethische und moralische Werte an Bedeutung verlören. ↑
Das Schweigen des Buddha
Der Überlieferung nach soll sich der Buddha geweigert haben, zu 14 konkreten Fragen Stellung zu nehmen. Es geht hier um Fragen, wie diejenige, ob die Welt ewig oder nicht ewig ist, ob sie Grenzen hat oder nicht, ob das Leben identisch ist mit dem physischen Körper, ob jemand, der die Wahrheit kennt, nach dem Tod weiterexistiert oder nicht, ob das Leiden von einem selbst verursacht ist oder nicht.
Bekannt ist z.B. eine Anekdote aus dem Aggi-Vacchagotta Sutra, wo der Wanderer Vacchagotta den Buddha fragt, ob das Selbst existiert. Da der Buddha auf diese Frage hin schwieg, fragte Vacchagotta den Buddha, ob das Selbst nicht existiert. Der Buddha schwieg auch bei dieser Frage. Gegenüber seinem Begleiter Ananda begründete er sein Schweigen anschliessend wie folgt: Hätte er die Existenz eines Selbst bestätigt, hätte er den Glauben an die Ewigkeit (Eternalismus) unterstützt, hätte er die Existenz eines Selbst abgelehnt, hätte er eine nihilistische Position unterstützt.
Eine plausible Erklärung für das Schweigen des Buddha zu den 14 Fragen ist die, dass der Buddha erkannt hat, dass er seine intuitive Einsicht in die ultimative Wahrheit nicht in Worte und damit auch nicht in Konzepte fassen kann und deshalb lieber geschwiegen hat, als mit Symbolen und Metaphern zu arbeiten, die leicht missverstanden werden können. Zudem gibt es Indizien dafür, dass der Buddha der Ansicht war, dass seine Anhänger ihre Energie besser in die Erkenntnis der Vier Edlen Wahrheiten und den Achtfachen Pfad zur Überwindung des Leidens investieren, anstatt metaphysischen Spekulationen nachzuhängen. ↑
Ist der Buddhismus eine Religion?
Es gibt Stimmen, die den Buddhismus nicht als Religion, sondern als (atheistische) Lebensphilosophie sehen. Dazu ist folgendes anzumerken:
- Ob der Buddhismus als Religion anzusehen ist, hängt wesentlich von der Definition des Begriffs „Religion“ ab. Es existiert keine allgemeingültige Definition des Begriffs. Wird Religion im Sinne einer substanzialistischen Definition verstanden, so ist sie als ein Phänomen zu betrachten, das das Heilige, Transzendente bzw. Absolute zum Wesen hat und die Auseinandersetzung des Menschen mit dieser transzendenten Macht erklärt. Dies tut der Buddhismus insofern als er das menschliche Heil durch die Einsicht in die ultimative Wahrheit anstrebt. Siehe auch » Definition des Begriffs ‚Religion‘
- Ob der Buddhismus als atheistische Religion anzusehen ist, hängt davon ab, wie der Begriff „Atheismus“ definiert ist. Wird unter Atheismus die Ablehnung der Existenz eines allwissenden und allmächtigen personalen Schöpfergottes verstanden, so könnte man den Buddhismus tatsächlich als atheistische Religion ansehen. Wird unter Atheismus jedoch die generelle Ablehnung eines transzendenten absoluten Prinzips verstanden, so ist der Buddhismus nicht per se als atheistische Religion anzusehen. Siehe auch » Die Position des expliziten Atheismus ↑
Literatur
Batchelor, S. (2002). Nāgārjuna. Verse aus der Mitte: eine buddhistische Vision des Lebens. Theseus-Verlag, 2002.
Garfield, Jay L., und Graham Priest. Nāgārjuna and the Limits of Thought. Philosophy East and West, 2003, 1–21.
Hayes, Richard P. Nāgārjuna’s appeal. Journal of Indian Philosophy 22, Nr. 4 (1994): 299–378.
Jones, Richard Hubert. The Nature and Function of Nāgārjuna’s Arguments. Philosophy East and West, 1978, 485–502.
Mabbett, Ian. The problem of the historical Nāgārjuna revisited. Journal of the American Oriental Society, 1998, 332–46.
Schmithausen, Lambert. Spirituelle Praxis und philosophische Theorie im Buddhismus. Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 57, Nr. 3 (1973): 161–86.
Weber-Brosamer, Bernhard, und Dieter M. Back. Die Philosophie der Leere. Nāgārjunas Mūlamadhyamaka-Kārikās. Übersetzung des buddhistischen Basistextes mit kommentierenden Einführungen, Wiesbaden, 1997.
Zimmermann, Michael, M.A. Tathagatagarbha. Universität Hamburg. 235. Page 2. Vortrag am 5.7.2000 an der Uni HH in der Reihe „Buddhismus in Geschichte und Gegenwart“ (» pdf)
Sarasin, Charles. Das Konzept der Leerheit in der Philosophie von Nāgārjuna. Literaturbericht zur Vorlesung Buddhismus im Frühlingssemester 2024. Eingereicht bei Prof. Dr. Angelika Malinar, Asien-Orient-Institut der Universität Zürich. (» pdf)