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Was ist Gnade?

Bild von Gordon Johnson auf Pixabay
Unter Gnade wird wird das Wohlwollen eines Höheren gegenüber einem Niedereren verstanden, im christlichen Kontext die Gnade Gottes gegenüber dem Menschen. Dieser Gnadenaspekt des Christentums wird denn auch gerne als Freistellungsmerkmal und zentrale Abgrenzung zu den „Leistungsreligionen“ Hinduismus und Buddhismus bezeichnet. Eine nähere Betrachtung sowohl des Buddhismus als auch des Hinduismus zeigt jedoch, dass auch dort die Gnade einen zentralen Stellenwert hat. Der Gnadenaspekt ist in allen drei Religionen ein entscheidenes Element im Prozess der Erlösung bzw. der Erleuchtung.

Inhaltsverzeichnis

Definition

Unter Gnade wird Wohlwollen des Höheren gegen den Niederen bzw. eine wohlwollende, freiwillige Zuwendung verstanden. Im Rechtssystem wird unter Gnade eine Vergünstigung verstanden, auf die kein Rechtsanspruch besteht.

Der Stellenwert der Gnade in den Weltreligionen

Glaube und Gnade im Christentum

Gnade – unverdienbarer Hulderweis Gottes

In der christlichen Theologie wird unter der göttlichen Gnade der freie und unverdienbare Hulderweis Gottes gegenüber den christusgläubigen Menschen verstanden. Nach christlicher Auffassung haben alle Menschen die Sünden des Adam geerbt. Die Menschen können sich die Erlösung von dieser Schuld nicht selbst erarbeiten, Gott kann aber jedem Menschen in göttlicher Gnade Vergebung schenken. Das Wirken von Jesus auf dieser Welt und sein Opfertod werden als höchstes Zeichen der Gnade Gottes dem Menschen gegenüber angesehen.

Von christlicher Seite wird oft argumentiert, dass Hinduismus und Buddhismus reine ‚Leistungsreligionen‘ seien, wohingegen sich gemäss christlicher Vorstellung der Mensch die Erlösung von seiner Schuld nicht selbst erarbeiten, sondern von Gott in seiner Gnade schenken lassen muss. Im Christentum wird, v.a. auch als Abgrenzung zum Judentum, davon ausgegangen, dass die göttliche Gnade und ein allgemeiner Heilswille Gottes immer schon gegeben sind und nicht durch das Befolgen des Gesetzes verdient werden müssen. 

Gnade ist letztlich doch an Bedingungen geknüpft

Das bedeutet aber keineswegs, dass damit auch schon die Erlösung des Menschen als gesichert angenommen wird. Für viele Christen gilt: Das Wirkvermögen der Gnade hängt von der Tiefe und Intensität der Beziehung zu Gott ab. Gemäss römisch-katholischer Lehre kann sich der Christenmensch zu Lebzeiten (dank kirchlicher Vermittlung) der Gnade Christi sicher sein, solange er seine Sünden bekennt, bereut und sich dem Leben in Liebe wieder zuwendet. Wer die Gnade nicht annimmt, also kein Glaubensbekenntnis ablegt und danach auch lebt, kann nicht von dieser Gnade profitieren. Wer eine negative Tat (Sünde) begeht und diese nicht bekennt und bereut bzw. um Vergebung bittet, hat auch im christlichen Kontext negative Konsequenzen zu befürchten. Zur Gnade kommt der Mensch nur durch den Glauben. 

Der Begriff ‚Glaube‘ im Christentum

Die christliche Auffassung von ‚Glauben‘ geht dabei weit über die umgangssprachliche Bedeutung dieses Begriffs hinaus: Der Glaube beinhaltet eine lebendige innere Verbindung zu Gott bzw. Jesus Christus, die Bitte um Vergebung aller Sünden, die Auseinandersetzung mit der Bibel sowie das aktive Bemühen, nach dem Wort der Bibel auch zu leben (Einstellung, Werte, Regeln, Moral). 

Schlussfolgerung

Das Studium der dem ursprünglichen Christentum noch nahe stehenden Wüstenväter (Philokalie) sowie der Biographien von christlichen Heiligen zeigt, dass das persönliche Bemühen auf dem spirituellen Pfad im christlichen Kontext eine lange Tradition hat und sehr weit gehen kann. Im Christentum ist also sehr wohl ein persönliches Engagement gefragt, auch wenn die Erlösung und das Eingehen in die paradiesische Gemeinschaft mit Gott letztlich ein Akt der göttlichen Gnade sein mag. Welches Ausmass an persönlichem Bemühen notwendig ist, um mit Hilfe der göttlichen Gnade die Erlösung zu erlangen, wissen wir nicht. Es ist jedoch einsichtig, dass mindestens ein sich Öffnen der göttlichen Gnade gegenüber notwendig ist, z.B. im Gebet. 

Der Glaube im christlichen Sinne ist keineswegs ein rein passives Empfangen der göttliche Gnade, sondern bedingt vielmehr eine ständige Auseinandersetzung mit sich selbst und mit den Glaubensinhalten.

Der Stellenwert der Gnade im Buddhismus

Im Buddhismus wird das eigene Bemühen betont

Im Buddhismus wird die eigene Verantwortung für das spirituelle Fortkommen bzw. die Erleuchtung betont. Es besteht die verbreitete Auffassung, dass es grundsätzlich möglich ist, mittels eigenem Bemühen in einem Leben vom Erdendasein erlöst zu werden und im besten Fall die Erleuchtung zu erlangen.

Das eigene Bemühen hat Grenzen

Zumindest im Mahayana-Buddhismus (Tibet, China, Korea, Japan) ist dies jedoch ohne die Unterstützung eines im Absoluten verwurzelten Lehrers bzw. helfenden Bodhisattvas praktisch unmöglich zu erreichen. Bodhisattvas in Form von geistigen Lehrern oder Meditationsgottheiten des Mitgefühls und der Barmherzigkeit wie Amitabha oder Chenresig (Avalokiteshvara) sind deshalb ein Ausdruck von Gnade.

Bild: Elfköpfiger tausendarmiger Avalokitesvara (Wikipedia)

 

Legende und Symbolik des Avalokiteshvara

„Der Legende nach soll sich der Bodhisattva Avalokiteshvara schon als Prinz vorgenommen haben, allen Wesen Beistand zu ihrer Befreiung zu leisten. Und er hatte einen Eid geleistet, darin niemals nachzulassen, andernfalls würde er in tausend Stücke zerspringen. So verweilte er im Zwischenzustand (Bardo) zwischen Leben und Tod. Der Legende nach durchstreifte er alle Bereiche lebenden Seins. Ob Götter, Menschen, Tiere oder Dämonen, überall verweilte er und unterstützte die Wesen, sich vom Leiden zu befreien. Als er sich umsah und sein Werk betrachtete, sah er, dass eine Unzahl leidender Wesen nachgeströmt waren. Er zweifelte für einen Moment an der Erfüllung seines Gelübdes und zersprang darob in tausend Teile. Aus allen Himmelsrichtungen sollen Buddhas herbeigeschossen sein, um die Teile aufzusammeln. Dank seiner übernatürlichen Fähigkeiten setzte Buddha Amitabha, der Buddha der unterscheidenden Weisheit, Avalokiteshvara wieder zusammen. Dieses Mal gab er ihm jedoch tausend Arme, in den Handinnenflächen mit jeweils einem Auge versehen, und elf Köpfe. Dadurch wollte er gewährleisten, dass Avalokiteshvara den Wesen noch effektiver dienen konnte. (…) Die 1000 Arme symbolisieren die mitfühlende Aktivität aller 1000 Buddhas, die nach der Überlieferung in diesem glücklichen Kalpa (buddhistisch-mythologisches Zeitalter) erscheinen werden.“ » Wikipedia

Was kann der Einzelne zu seiner Erleuchtung wirklich beitragen?

Persönliches Bemühen auf dem spirituellen Pfad ist nach buddhistischem Verständnis sicher notwendig. Auch im Buddhismus kann aber die Frage nicht letztgültig geklärt werden, ob die Erleuchtung schwergewichtig durch die Bemühungen des Einzelnen oder durch einen Akt der Gnade erreicht wird. Marco Pallis spricht in diesem Zusammenhang von einer 

„unermesslichen Kluft (…) zwischen der Erleuchtung und dem nach Erleuchtung Suchenden. (…) Erleuchtung (oder in diesem Zusammenhang, Gott) kann in Beziehung zum Bemühen des Menschen unmöglich am passiven Ende sein, kann per se nicht zum Objekt des menschlichen Subjekts werden. [Es ist eher so, dass die] Erleuchtung im wesentlichen der aktive Faktor ist und dass der Mensch, trotz seiner scheinbaren Initiative und seinem Bemühen, den passiven Teil der erhabenen Entsprechung darstellt.“ 

Pallis, Seite 81f

Schlussfolgerung

Alleine die Tatsache, dass es spirituelle Lehrer gibt und dass diese bereit sind, anderen Menschen zu helfen, ist bereits ein Zeichen der Gnade. Da es zudem praktisch unmöglich ist, in unserer Dimension (Samsara) kein negatives Karma anzusammeln, ist auch im Buddhismus die Erlösung bzw. Erleuchtung letztlich ein Akt der Gnade. In der tibetischen Tradition des Vajrayana Buddhismus bittet ein Praktizierender deshalb regelmässig um Segen und Hilfe auf dem Pfad (Praxis der Zuflucht). Die Bitte richtet sich an Buddha selbst, an andere erleuchtete Wesen und an den eigenen Lehrer. Letztlich ist also auch der Buddhist auf seinem Pfad auf die Gnade und den Segen höherer Mächte angewiesen. 

Der Stellenwert der Gnade im Hinduismus

Auch wenn in den vedischen Traditionen (Hinduismus) die eigene Verantwortung für das spirituelle Fortkommen stark betont wird, hat die Gnade des Absoluten einen hohen Stellenwert. Das lässt sich beispielsweise anhand der folgenden Zitate aus der Bhagavad Gita verdeutlichen:

„Aus reiner Barmherzigkeit zünde Ich, der in ihrem Innern wohnt, die helle Lampe der Weisheit in ihnen an, welche die Dunkelheit der Unwissenheit verbannt.“ Bhagavad Gita, Kapitel X, Vers 11

„Auch wenn ein Gottsucher stets pflichtgetreu handelt und in Mir seine Zuflucht sucht, so ist es überdies Mein Wohlwollen, durch das er den ewigen, unwandelbaren Zustand erlangt.“ Bhagavad Gita, Kapitel XVIII, Vers 56

Schlussfolgerung. Auch im Hinduismus wird also der Aspekt der Gnade hoch bewertet. 

Die Werksgerechtigkeit

Der Begriff der „Werkgerechtigkeit“ geht auf den Reformator Martin Luther zurück. Er bezeichnet damit ein Verhalten, gute Taten lediglich mit dem Hintergedanken zu vollbringen, durch eigene Verdienste in ein privilegiertes Verhältnis zu Gott zu gelangen und sich z.B. durch wohltätige Gaben eine Verrechnung für schuldiges Verhalten zu erhoffen. Nach Martin Luther sollten die guten Werke jedoch allein aus dem Glauben erfolgen und nicht bloss Mittel zum Zweck sein.

„Gute fromme Werke machen nimmermehr einen guten frommen Mann, sondern ein guter frommer Mann macht gute fromme Werke.“

Martin Luther

Nach der Lehre von Martin Luther und anderen Reformatoren wird der Mensch nicht durch eigene Bemühungen, sondern durch die Gnade Gottes erlöst.

Das eigene Bemühen auf dem spirituellen Pfad birgt in der Tat ein gewisses Risiko der Werksgerechtigkeit: „Ich meditiere und bete viel, bin näher beim Meister, bei Jesus, beim Buddha, etc. und darum schneller erleuchtet und besser als alle anderen.“ In diesem Fall besteht die Gefahr, dass das eigene Ego aufgeblasen wird, anstatt dass es in den Hintergrund tritt, was das eigentliche Ziel des Glaubens bzw. spiritueller Arbeit sein sollte. Das mag einer der Gründe dafür sein, dass im Christentum der Gnadenaspekt so stark gewichtet wird (siehe z.B. Eph 2, 8f) und dass gewisse christliche Gruppen selbst die Exerzitien nach Ignatius von Loyola ablehnen, um jede Form der Werksgerechtigkeit bzw. Eigenliebe durch gute Taten zu vermeiden.

Eine selbstgerechte Einstellung wirkt sich aber auch nach buddhistischer und hinduistischer Lehre negativ auf den spirituellen Fortschritt aus, handelt es sich doch um eine Form der Selbstbezogenheit, die als Hauptursache für das leidvolle Leben in dieser Dimension (Samsara) angesehen wird. In der Bhagavad Gita wird der Schüler beispielsweise dazu aufgefordert 

„gewissenhaft gute materielle (…) und geistige Handlungen [zu vollbringen], ohne an ihnen zu hängen. Wer immer handelt, ohne innerlich gebunden zu sein, gewinnt das Höchste.“ 

Bhagavad Gita, Kapitel III, Vers 19

Fazit

Das Konzept der göttlichen Gnade ist ein wichtiges Element des christlichen Glaubens. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass im Christentum das Empfangen dieser Gnade letztlich doch an Bedingungen bzw. Leistungen geknüpft ist. Auf der anderen Seite hat der Aspekt der Gnade auch in anderen Religionen, wie z.B. im Buddhismus und Hinduismus, einen zentralen Stellenwert. Die Gnade ist also kein Alleinstellungsmerkmal des Christentums, wie dies von christlicher Seite her gerne behauptet wird. 

Literatur

Marco Pallis, Spektrum Buddhistischer Leitgedanken, Dietikon: Garuda-Verlag, 1989, Kapitel IV: Ist im Buddhismus Raum für „Gnade“?