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Was ist Realität

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay
Viele Menschen setzen heute ein materialistisches Weltbild absolut, andere nehmen für sich in Anspruch, „die Wahrheit“ zu kennen. Die einen berufen sich dabei auf wissenschaftliche Erkenntnisse, die anderen auf religiöse Schriften und Dogmen. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, einmal zu überlegen, wie eine wissenschaftliche Erkenntnis zustande kommt, wie wir zu unserer Wahrnehmung der Realität kommen und was das alles für das Thema Religion bedeutet.

Inhaltsverzeichnis

Die Sicht der (Natur-)Wissenschaft

Zur Beschreibung und als Basis zum Verständnis der Welt gilt heute die (Natur-)Wissenschaft als das Mass aller Dinge. Dabei ist es wichtig, die wissenschaftliche Arbeitsweise zu verstehen.

Die Wissenschaft stellt ein Modell der Realität dar, nicht die Realität selbst

Erst wird ein Modell erstellt und dieses dann experimentell überprüft

Modell
Modell vs. Realität

Im Rahmen des Forschungsprozesses wird auf der Basis einer Hypothese erst ein Modell erstellt. In der Physik z.B. ist dies in der Regel ein System aus mathematischen Gleichungen. Dieses Modell wird sodann mittels Experimenten überprüft. Mittels Messungen oder Erhebungen wird festgestellt, inwieweit die Hypothese bzw. das errechnete Ergebnis mit der gemessenen Realität übereinstimmt, und zwar innerhalb der gegebenen Messgenauigkeit.

Das Ergebnis hängt von der Anlage des Experiments bzw. der Erhebung ab

Dabei ist zu beachten, dass v.a. in der Medizin und in den Sozialwissenschaften die Anlage eines Experiments oder einer Erhebung einen massgeblichen Einfluss auf das Ergebnis hat. Das beinhaltet z.B. die Auswahl der beobachteten Parameter, die Auswahl des betrachteten Zeitraums, die Grösse der Stichprobe, etc. Zudem werden häufig reine Korrelationen fälschlicherweise für Kausalitäten gehalten und auf diese Art Zusammenhänge konstruiert, die in Tat und Wahrheit nicht existieren. Gerade in den häufig mit statistischen Methoden arbeitenden Gesundheits- und Sozialwissenschaften entsteht dadurch ein erhebliches Potenzial zur Manipulation. Je nach Setting kann das vom Forscher aus politischen, weltanschaulichen oder anderen Gründen angestrebte Ergebnis „wissenschaftlich erhärtet“ werden.

Fazit. Die Wissenschaft kann die Realität nicht 1:1 beschreiben. Sie bildet nur ein innerhalb der Messgenauigkeit verifiziertes Modell eines selektiven Ausschnittes der Realität ab, nicht die Realität selbst.

Ein Modell kann nur falsifiziert, nicht aber im absoluten Sinn verifiziert werden

Ein (natur-)wissenschaftliches Modell kann immer nur innerhalb der gegebenen Messgenauigkeit verifiziert werden. Erhöht sich die Messgenauigkeit, z.B. durch technischen Fortschritt, stellt man unter Umständen fest, dass das Modell die Realität doch nicht so genau abbildet wie ursprünglich gedacht.

Ist der Messfehler wiederholt signifikant ausserhalb der Messtoleranz, gelten die entsprechende Hypothese und das daraus abgeleitete Modell als falsifiziert. Auf der Basis einer neuen oder angepassten Hypothese muss dann ein neues Modell erstellt und mittels Messungen überprüft werden. Solange es technischen Fortschritt gibt, ist dieser Prozess nie abgeschlossen.

Fazit. Ein wissenschaftliches Modell lässt sich nie im absoluten Sinne verifizieren, nur temporär und nur innerhalb der gegebenen Messgenauigkeit.

Ein wissenschaftliches Modell weist Systemgrenzen auf

Jedes wissenschaftliche Modell weist eine Systemgrenze auf (siehe Grafik oben). Darüber, was sich jenseits dieser Grenze befindet, kann ein Modell keine Aussage machen. Das heisst aber nicht, dass ausserhalb der Systemgrenze nichts existieren würde.

Ein wissenschaftliches Modell bildet also immer nur einen Ausschnitt einer nicht näher bekannten Realität ab. Was sich jenseits der Modell-Grenze befindet, wird erst zum Thema der Wissenschaft, wenn Messungen oder Phänomene beobachtet werden, die sich mit den bestehenden Modellen nicht erklären lassen.

Handelt es sich bei diesen Phänomenen um Dinge, die (noch) nicht messbar oder intersubjektiv erfahrbar sind, werden sie meist nicht Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen und somit ausgeblendet. So ist z.B. für viele Naturwissenschaftler die mögliche Existenz einer feinstofflichen bzw. geistigen Welt jenseits der materiellen Welt ein Tabu, obschon sich deren Nicht-Existenz zurzeit nicht beweisen lässt.

Oft wird ein Modell stillschweigend mit der Realität gleichgesetzt und die Systemgrenzen zum Dogma erhoben – wer sie hinterfragt, muss mit Widerstand rechnen. Das ist aber keine wissenschaftliche, sondern eine dogmatische Haltung.

Wissenschaft ist nicht wertfrei

Die allgemeine Auffassung darüber, was als „real“ anzusehen ist, hängt zu einem guten Teil von wissenschaftlichen Modellen und deren Systemgrenzen ab. Diese wiederum hängen davon ab, wo Forschungsschwerpunkte gesetzt werden. Was erforscht wird, hängt von der Finanzierung ab. Diese hängt davon ab, was von verschiedenen Gremien sowie der Öffentlichkeit als forschungswürdig erachtet wird.

Eine wissenschaftliche Studie, die beispielsweise zum Schluss kommt, dass die Astrologie kein Humbug ist oder Nahtoderfahrungen eine reale Grundlage haben, wird dem entsprechenden Wissenschaftler wenig Lorbeeren einbringen, ja sie wird gar seine wissenschaftliche Karriere gefährden. Einmal ganz abgesehen davon, würde er für seine Forschung auch keine Finanzierung erhalten.

Fazit. Forschung ist nie völlig wertfrei, sondern hängt erheblich von wirtschaftlichen und weltanschaulichen Faktoren ab.

Die Welt als Konstruktion

Die objektive Realität ist vom Menschen nicht direkt erfassbar

Die auf Ernst von Glasersfeld zurückgehende Philosophie des Radikalen Konstruktivismus geht davon aus, dass die objektive Realität vom Menschen nicht direkt erfasst werden kann. Die persönliche Wahrnehmung ist gemäss diesem Ansatz nicht das Abbild einer vom Individuum unabhängigen Realität, sondern immer nur eine subjektive Konstruktion auf der Basis der eigenen Sinnesreize und der mentalen Strukturen des Menschen. Absolute Objektivität im Sinne einer Übereinstimmung von wahrgenommenem bzw. konstruiertem Bild und der Realität wird deshalb als unmöglich erachtet.

Unsere Wahrnehmung der Realität ist das Resultat eines jahrelangen Lern- und Kalibrierungsprozesses

Nach der Geburt ist ein menschliches Wesen ziemlich hilflos und kann seine Umgebung nur beschränkt wahrnehmen. Seine kognitiven und motorischen Fähigkeiten sind noch kaum entwickelt. Das muss erst alles gelernt werden.

Durch unsere Erziehung und Schulung entsteht schliesslich ein Konsens darüber, wie bestimmte Dinge wahrzunehmen sind. Verbindendes Element ist die Sprache – ein kulturell geprägtes System von Definitionen für Gegenstände und Zusammenhänge aus dem allgemein Erfahrbaren.

Was nicht allgemein erfahrbar ist, dafür existieren auch keine Begriffe, mittels derer sich die Menschen über ihre Erfahrung austauschen und kalibrieren könnten. Das macht es für Menschen mit Gotteserfahrungen auch so schwierig, ihre Erfahrung in Worte zu fassen.

Die Realitätswahrnehmung aus Sicht der Hirnforschung

Unser bewusstes Erleben ist ein inneres Konstrukt

Unterstützt wird die Sicht des Radikalen Konstruktivismus durch die moderne Hirnforschung. Der Philosoph Thomas Metzinger stellt in seinem Buch ‚Der Ego Tunnel‘ auf der Basis aktueller Erkenntnisse der Neurowissenschaften fest, „dass der Inhalt unseres bewussten Erlebens nicht nur ein inneres Konstrukt, sondern auch eine höchst selektive Form der Darstellung von Information ist.“

Was wir wahrnehmen ist nicht die Aussenwelt sondern eine Simulation davon

Was wir mit unseren begrenzten Sinnesorganen wahrnehmen, ist nur eine „niedrigdimensionale Projektion der unvorstellbar reicheren und gehaltvolleren physikalischen Wirklichkeit, die uns umgibt (…).“ Bewusstes Erleben ist mit einem Tunnel (‚Ego-Tunnel‘) durch diese Wirklichkeit vergleichbar. Was wir über unser Gehirn wahrnehmen, ist nicht die Aussenwelt an sich, sondern eine Simulation derselben. Das Gehirn generiert auch „ein inneres Bild von uns selbst als einer Ganzheit. (…) Dieses innere Bild der Person-als-Ganzer ist das phänomenale Ego, das ‚Ich‘ oder ‚Selbst‘, so wie es im bewussten Erleben erscheint.“

Das phänomenale Selbstmodell ist transparent

Die zentrale These von Thomas Metzinger ist die, dass dieses „bewusste Erleben, ein Selbst zu sein, dadurch verursacht wird, dass das phänomenale Selbstmodell (PSM) in unserem Gehirn fast vollständig transparent ist.“ (Zitate Seiten 21ff). ‚Transparenz‘ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass wir die Welt nur durch Filter erfahren können, aber nicht in der Lage sind, die Filter selbst wahrzunehmen.

Sämtliches menschliches Erleben wird im Gehirn repräsentiert

Vor allem aufgrund von Experimenten mit ‚Out of Body Experiences‘ (OBE) kommt Thomas Metzinger zum Schluss, dass spirituelle Erfahrungen vom Gehirn erzeugt werden und sich so etwas wie ‚Geist‘ im Sinne eines feinstofflichen Körpers nicht nachweisen lässt. Der subtile zweite Körper „besteht aus reiner Information, die im Gehirn fliesst. (…) Der Feinstoffkörper ist das Selbstmodell im Gehirn.“ (Seite 129f)

Die moderne Hirnforschung lässt in der Tat den Schluss zu, dass sämtliches menschliches Erleben im Gehirn repräsentiert wird. Wird eine bestimmte Gehirnregion geschädigt oder manipuliert, so wird dadurch auch die (Selbst-)Wahrnehmung des Menschen entsprechend verändert.

Gegen diese These sprechen Nahtoderfahrungen von Menschen, die sich, z.B. im Kontext einer schweren Operation, als über dem Operationstisch schwebend wahrnehmen und anschliessend den Operationsverlauf wiedergeben können. Das Thema ist jedoch noch zu wenig erforscht, um wissenschaftlich wasserdichte Aussagen machen zu können.

Die Ergebnisse der Hirnforschung sind kein hinreichender Beweis dafür, dass es keine anderen Dimensionen oder geistigen Ebenen gibt (siehe oben zum Thema Systemgrenzen von wissenschaftlichen Modellen). Das Konzept des Ego-Tunnels legt vielmehr den Gedanken nahe, dass im Universum Dimensionen existieren, die weit über das uns Vorstellbare hinausreichen, und dass diese auch grundsätzlich erfahrbar wären.

Was bedeutet das für das Thema Religion?

Wir haben eine eingeschränkte Sicht auf die Realität

Die oben dargestellten Konzepte lassen den Schluss zu, dass wir im Normalfall eine beschränkte Sicht auf die Dinge haben. Unsere Wahrnehmung der Realität ist stark geprägt von der Art, wie uns die Welt  erklärt wird – beim Heranwachsen durch Eltern und Schule, später durch Wissenschaft und Medien. Eine unterschiedliche Erfahrung derselben Realität muss deshalb nicht per se falsch sein.

Wie gehen wir mit Gotteserfahrungen um?

Gotteserfahrung ist nicht intersubjektiv kommunizierbar

Es ist denkbar, dass einzelne Menschen etwas mehr wahrnehmen als andere. Einzelne haben vielleicht sogar eine direkte Erfahrung des Absoluten und sind in der Lage, die Ebene der ‚konstruierten‘ Welterfahrung zu durchbrechen. Die Aussagen von Mystikern lassen dies vermuten.

Da aber vermutlich nur wenige Menschen eine solche Gotteserfahrung haben, ist es kaum möglich, einen breit abgestützten, erfahrungsbasierten und in Sprache gefassten Konsens für eine intersubjektiv nachvollziehbare Beschreibung dieser Realitätsebene zu erreichen. Dies umso mehr, als Gott bzw. das Absolute ja als transzendent angenommen wird, d.h. jenseits der an Raum und Zeit gebundenen Konstruktion der allgemein akzeptierten Realität liegt und sich deshalb auch nicht ohne weiteres in Konzepte bzw. Sprache fassen lässt.

Vermittlung der Gotteserfahrung über Metaphern

Die Mittler des Absoluten bzw. die Offenbarer der Religionen standen vor der Aufgabe, eine auf direkter Erfahrung basierende Erkenntnis zu kommunizieren, die jenseits der Wahrnehmungs- und Verständnismöglichkeit der überwiegenden Mehrzahl der Menschen liegt. Eine Möglichkeit, mit diesem Problem umzugehen, sind auf den spezifischen sozialen, kulturellen und kognitiven Kontext der Mitmenschen bezogene Denkmodelle und Metaphern, wie sie in Heiligen Schriften zu finden sind. Diese sind demnach immer nur als Modelle bzw. Konstruktionen auf der Basis der allgemein akzeptierten Realität zu verstehen. Es ist davon auszugehen, dass diese Modelle die von den Mittlern wahrgenommene Realität nur beschränkt abbilden.

Philosophisch-theologische Konzepte

Theologien sind geschlossene selbstreferentielle Systeme

Die verschiedenen philosophisch-theologischen Konzepte bieten einen wichtigen Orientierungsrahmen auf dem spirituellen Weg. Sie sind jedoch als in sich geschlossene, selbstreferentielle Systeme zu betrachten, die auf einer spezifischen, ‚konstruierten‘ Sicht auf die Realität beruhen.

Die ‚einzig richtige‘ philosophisch-theologische Sicht gibt es nicht

Es gibt auf dieser Welt keine allgemein anerkannte Instanz, die für sich in Anspruch nehmen könnte, über die ‚einzig richtige‘ Sicht auf Gott und die Schöpfung zu verfügen. Es gibt, ausser der Gotteserfahrung selbst, keinen archimedischen Punkt, an dem sich ein solcher Anspruch festmachen liesse. Wir können deshalb keine Beurteilung darüber abgeben, ob ein gegebener philosophisch-theologischer Orientierungsrahmen absolut gesehen besser oder schlechter ist als ein anderer. Insofern sind die philosophisch-theologischen Konzepte der verschiedenen Religionen und Schulen erst einmal als wertfrei nebeneinander stehend anzusehen.

Es kann höchstens festgestellt werden, ob sich ein spezifischer Rahmen in der Lebenspraxis der Anhänger einer Religion bewährt oder nicht.

Schlussfolgerung

Das eigentlich Entscheidende ist letztlich, wie der Mensch die philosophisch-theologischen Konzepte in den Alltag umsetzt, d.h. ob er oder sie aktiv einem spirituellen Pfad folgt und sich der Umwelt und seinen Mitmenschen gegenüber ethisch reflektiert verhält.

Das Ziel einer Religion oder eines spirituellen Pfads ist die gelebte Verbundenheit mit Gott bzw. dem Absoluten sowie die direkte innere Einsicht in seine Natur und sein Wirken. Die theologischen Konzepte sind dazu bloss Mittel zum Zweck. Sie absolut zu setzen oder sich wegen ihnen zu streiten ist ziemlich sinnlos, ja eigentlich absurd.

Literatur

Paul Watzlawick, die erfundene Wirklichkeit – wie wissen, was wir zu wissen glauben, Beiträge zum Konstruktivismus, Piper Verlag, München, 1981

Thomas Metzinger, Der Ego Tunnel – Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik, Berlin Verlag, 2009