Deontologische Ethik (Gesinnungsethik, Pflichtethik)

Grundlagen

Was Vernunft und Gewissen im Grundsatz als gut, gerecht und verallgemeinerbar erkennen, muss ohne Rücksicht auf die möglichen Folgen getan werden. Normative Sätze, Gebote und Verbote haben dabei Vorrang vor einer abwägenden Beurteilung der Handlungsfolgen. Eine Handlung gilt als sittlich richtig, wenn sie Maximen bzw. einer Gesinnung folgt, die in sich gut sind (z.B. 'Leben schonen', 'die Wahrheit sagen', 'nicht zu lügen', etc.). Die Maximen selbst müssen mit dem 'Kategorischen Imperativ' begründbar sein:

«Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.» Immanuel Kant

Diskussion

Führt eine gute Gesinnung immer zu guten ethischen Entscheiden?

Die mit dem Kategorischen Imperativ begründeten Handlungsmaximen sowie daraus abgeleitete Gebote und Verbote können im Einzelfall zu ethisch fragwürdigen Entscheiden führen: Lügen beispielsweise wird allgemein als schlecht und damit unethisch angesehen. Es sind aber Situationen denkbar, wo Lügen das kleinere Übel darstellt, ja im Extremfall sogar Menschenleben retten kann. Muss auch in einer solchen Situation Lügen als sittlich schlecht beurteilt werden? In welchen Fällen ist Lügen aus ethischer Sicht vertretbar? In welchen nicht?
Beispiel: Eine Gruppe von Extremisten macht Jagd auf die Vertreter einer religiösen Minderheit. Ist es ethisch vertretbar, wenn ich den Verfolgern eine Lüge auftische und sie in die falsche Richtung schicke?

Schwieriger zu beurteilen sind Situationen, wo aktiv in die körperliche Integrität von Menschen eingegriffen wird, z.B. bei der gezielten Tötung eines Amokläufers oder der Androhung von harten Verhörmassnahmen zur Rettung von Leben.
Beispiel: Ist die Androhung von Folter beim Verhör eines Kindsentführers ethisch vertretbar, wenn noch eine Chance besteht, das Kind lebend zu bergen?

Herausforderung: Konflikte zwischen positiven Maximen

In diesen Beispielen geraten die gleichermassen mit dem Kategorischen Imperativ begründbaren Maximen der Ehrlichkeit, der Gerechtigkeit und der Achtung vor der menschlichen Würde in Konflikt. Welche Maxime wiegt im Einzelfall schwerer? Wer kann das entscheiden?

Das Töten oder Foltern von Menschen verletzt die » Menschenwürde und ist u.a. in der Schweiz und in Deutschland gemäss Verfassung bzw. Grundrecht verboten. Aus einer strikt deontologischen Sicht lassen sich Tötungen und Folter auch dann nicht rechtfertigen, wenn sie Leben retten könnten und somit, zumindest aus einer utilitaristischen Perspektive (» teleologische Ethik), das scheinbar kleinere Übel darstellen würden.

Beispiele Dilemmasituationen

Flugzeugabschuss

Im oben dargestellten Beispiel hat das deutsche Bundesverfassungsgericht im Februar 2006 im Sinne eines deontologischen Ethikverständnisses entschieden, dass ein von Selbstmordattentätern entführtes Passagierflugzeug auch im äussersten Notfall nicht abgeschossen werden darf – auch dann nicht, wenn es als Waffe eingesetzt werden sollte. Ein solcher Abschuss würde gegen die verfassungsmässig garantierte » Menschenwürde sowie das Recht auf Leben und die körperliche Unversehrtheit verstossen. Die Passagiere und Besatzungsmitglieder würden im Fall eines staatlich verordneten Abschusses als Objekte behandelt. Sie würden 'verdinglicht und zugleich entrechtlicht'. Zudem sei es schwer mit Sicherheit vorherzusagen, ob es für die Menschen an Bord einer solchen entführten Maschine noch eine Überlebenschance gebe oder nicht.

Die Argumentation des Verfassungsgerichts ist gewiss stringent, wirkt aber etwas dogmatisch. Der mögliche Tod von vielen weiteren unbeteiligten und unschuldigen Menschen am Boden wird stillschweigend in Kauf genommen. Deren Recht auf Leben und damit deren Menschenwürde fliesst nicht in die Betrachtung ein. Angesichts der Tatsache, dass die Menschen im Flugzeug mit grosser Wahrscheinlichkeit ohnehin sterben werden, ist der Entscheid zumindest diskussionswürdig.

Covid-19 Pandemie

Im Fall der Covid-19 Pandemie bestehen u.a. folgende ethische Spannungsfelder:

  •  Schutz des Lebens und Fürsorge für die Mitwelt vs. Schutz der verfassungsmässig garantierten Freiheitsrechte.
  • Schutz des Lebens und Fürsorge für die Mitwelt vs. Negative Auswirkungen eines Lockdown von Wirtschaft und Gesellschaftsleben.
  • Schutz von Menschenwürde und körperlicher Unversehrtheit vs. Schutz des Lebens und Verhinderung von wirtschaftlichen Schäden mittels (impliziter) Impfpflicht.
  • Abweisung von älteren Covid-19 Patienten mit wenig Überlebenschancen (Triage) im Fall von überlasteten Intensivstationen vs. Recht auf Leben.
  • Von den politischen Exekutiven ohne gesetzlich Grundlagen ergriffene Massnahmen vs. demokratische Legitimation (zu Beginn der 1. Welle).

Diskussion: Aus der Perspektive eines strikt deontologischen Ethikverständnisses würde mit grosser Wahrscheinlichkeit die Maxime, wenn immer möglich Leben zu retten, höher gewichtet als die Einschränkung der freiheitlichen Grundrechte der Bevölkerung und die schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgekosten eines Lockdowns. Auch stark einschränkende Massnahmen und ihre Folgen für Gesellschaft und Wirtschaft würden aus dieser Perspektive kaum in Frage gestellt, höchstens vielleicht deren fehlende demokratische Legitimation. Aus einer rein deontologischen Perspektive liessen sich deshalb erhebliche Einschränkungen der persönlichen Freiheit rechtfertigen, wenn sie das Leben v.a. älterer Menschen schützen können. Würde dies auch für eine allgemeine Impfpflicht gelten?

Wie würde eine allgemeine Impfpflicht aus deontologischer Sicht beurteilt? Auch wenn dies von Impfgegnern immer wieder bestritten oder zumindest in Frage gestellt wird, so ist nach aktuellem Stand des Wissens die möglichst vollständige Durchimpfung der gesamten Bevölkerung inkl. Kinder und Jugendliche der schnellste und wirkungsvollste Weg aus der Pandemie. Die Evidenz ist eindeutig: Die Impfung schützt vor einer schweren Covid-19-Erkrankung. Und sie hindert die Krankheit ein Stück weit an der Ausbreitung. Wären alle Menschen geimpft, hätte das spürbare Auswirkungen. Impfen ist zwar eine persönliche Entscheidung, aber keine Privatsache, denn die Konsequenzen der Nichtimpfung sind für die Gesellschaft erheblich. Es profitieren letztlich alle Menschen von einer hohen Impfquote: Das Risiko einer Spitalbehandlung und damit die Belastung des Gesundheitswesens sinkt, die Gefahr der Ausbildung von Mutationen ist geringer, die wirtschaftlichen Kosten sind kleiner und die Einschränkung der persönlichen Freiheit durch verschiedene Schutzmassnahmen kürzer. Zudem ist die Gefahr der Triage kleiner, d.h. das Gesundheitspersonal ist nicht gezwungen zu entscheiden, wer in die Intensivpflege kommt und wer de facto zum Sterben verurteilt ist.
    Auf der anderen Seite gibt es in Teilen der Bevölkerung ernst zu nehmende Ängste und Vorbehalte gegenüber der Impfung. So haben viele Menschen Angst vor genmanipulierten Substanzen und vor eventuellen langfristigen Schäden durch die Impfung. Religiöse Menschen stossen sich zudem daran, dass für die Herstellung von Impfstoffen teilweise auf Zellkulturen zurückgegriffen wird, die von abgetriebenen Föten stammen. Die Befürchtungen lassen sich mit guten Argumenten weitgehend entkräften: Es besteht aus heutiger Sicht kein Anhaltspunkt dafür, dass die Impfung unser Genom verändern oder andere langfristige Schäden bewirken würde. Es werden keine Föten mit dem Zweck abgetrieben, Zellkulturen für die Impfstoffherstellung zu verwenden. Wären die hinter den Bedenken und Vorbehalten vermuteten Fakten tatsächlich korrekt, wären die Herstellung und Verabreichung der Impfung aus ethischen Gründen abzulehnen.
    Aus heutiger Sicht ist kein Grund erkennbar, der eine Ablehnung der Impfung aus einer ethischen Perspektive rechtfertigen würde. Aus dieser Erkenntnis lässt sich eine persönliche moralische Pflicht zur Impfung ableiten, zumal der Aufwand dafür gering, der Nutzen für einen selbst und indirekt auch für die Mitmenschen sowie die Gesellschaft als ganze hoch ist, vergleichbar effektive und effiziente Alternativen nicht vorliegen und zugleich das Risiko der Selbstschädigung gering ist.

Aus einer persönlichen moralischen Pflicht zur Impfung lässt sich jedoch noch keine allgemeine Impfpflicht im juristischen Sinne ableiten. In diesen Fall geraten die gleichermassen mit dem Kategorischen Imperativ begründbaren Maximen der Achtung vor der menschlichen Würde, der Religionsfreiheit, der Achtung vor der Unversehrtheit des eigenen Körpers sowie der persönlichen Freiheit in Konflikt mit der Maxime zur Verantwortung gegenüber den Mitmenschen und dem Gemeinwesen. Im Kontext der individualistischen westlichen Kultur, in der die Menschenrechte einen hohen Stellenwert haben, wiegt die Achtung vor der Menschenwürde schwer. Das Injizieren einer Substanz in einen gesunden Körper wird anders wahrgenommen als beispielsweise das Anhalten vor einer roten Ampel. Kommt hinzu, dass eine allgemeine Impfpflicht die Spaltung der Gesellschaft vertiefen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt schwächen würde.
    Aus einer strikt deontologischen Sicht liesse sich eine gesetzlich verordnete allgemeine Impfpflicht kaum rechtfertigen. Deontologisch zu rechtfertigen wäre allenfalls eine Impfpflicht für spezifische Berufsgruppen wie z.B. das Gesundheitspersonal, da dieses vermehrt mit vulnerablen Menschen zu tun hat, die im Fall einer Infektion sterben können. Eine allgemeine Impfpflicht wäre aus einer deontologischen Perspektive allenfalls dann diskussionswürdig, wenn in den Spitälern im grossen Stil Triage betrieben werden müsste. Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und eine erhöhte Kostenbeteiligung für nicht Geimpfte im Fall einer Intensivbehandlung hingegen wären aus einer deontologischen Perspektive zu rechtfertigen.

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Version vom 10. April 2023

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