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Verantwortungsethik / Utilitarismus (Teleologische Ethik)

Was ist unter „Verantwortungsethik“ bzw. „Utilitarismus“ zu verstehen? Wo liegen die Knackpunkte der Verantwortungsethik bzw. des Utilitarismus? Wie misst man das „Grösste Glück der grössten Zahl“? Wie würde man z.B. die Covid-Impfplicht aus utilitaristischer Perspektive beurteilen?

Inhaltsverzeichnis

Grundlagen

Das Ziel und die Folgen einer Handlung im Fokus

Handlungen sollen ein Ziel anstreben, das in einem umfassenderen Verständnis als ‚gut‘ anzusehen ist, d.h. eine Handlung wird dann als gut bezeichnet, wenn die positiven Folgen voraussichtlich überwiegen (Konsequenzen-Prinzip), der erwartete Nutzen also grösser ist als der potenzielle Schaden. Dazu müssen die Argumente für und wider eine Handlung bzw. die dahinter liegenden Werte gegeneinander abgewogen werden. Es findet also eine Güterabwägung statt. 

Teleologische Ethik am Beispiel des Utilitarismus

Es existieren verschiedene Ansätze einer teleologischen Ethik, wobei der durch Jeremy Bentham (1748–1832) und John Stuart Mill (1806–1873) entwickelte Utilitarismus der bekannteste ist. Im Utilitarismus werden Handlungen danach beurteilt, inwiefern sie „das grösste Glück der grössten Anzahl Menschen“ bewirken. Es stellt sich in diesem Zusammenhang aber die Frage, was unter „Glück“ zu verstehen und wie es zu messen ist.

  • Geht es um eine rein hedonistische Nutzenoptimierung oder wird der Begriff umfassender bzw. nachhaltiger verstanden?
  • Wie wird das Glück der von einer Handlung positiv Betroffenen gegen den Schaden der von einer Handlung negativ Betroffenen abgewogen? 

Herausforderung: Wie werden Werte gegeneinander gewichtet?

Die Beantwortung dieser Fragen setzt einen Massstab zur Beurteilung von Werten voraus. Die Frage nach dem Massstab führt zur Frage nach dem letzten Bezugspunkt bzw. Ziel des menschlichen Handelns. Dies wird oft mit dem „Höchsten Gut“ umschrieben. Was ist nun dieses Höchste Gut? In einer säkular-humanistischen westlichen Gesellschaft könnte dies z.B. die Unantastbarkeit der Menschenwürde sein. Für die Alltagspraxis ist dies jedoch ein eher abstrakter Ansatz. Es braucht deshalb ein praktisches Verfahren, wie Werte gegeneinander abzuwägen bzw. Wertehierarchien zu bilden sind. 

Wertehierarchien

Ein praktisches Verfahren zur Klärung von Werthierarchien ist die Definition von Wertevorzugsregeln. Beispiele für solche Regeln sind:

  • Höhere Werte vor niederen, z.B. Unversehrtheit des Lebens vor wirtschaftlichem Erfolg (aber: wer legt fest, was als ‚höher‘ und was als ’niedriger‘ anzusehen ist?)
  • Grössere Anzahl Menschen vor einer kleineren Zahl (aber: dürfen wir Menschenleben gegeneinander aufrechnen?)
  • Grössere Erfolgsaussicht vor Handlungen mit geringerer Erfolgschance (aber: wer kann das sicher voraussagen?)
  • Dringlichere Handlung vor weniger dringlichen (aber: wie wird die Dringlichkeit im konkreten Fall gemessen bzw. bewertet?)
  • Besser geeignete Massnahmen vor weniger geeigneten (aber: wer kann das im Voraus beurteilen?)
  • Gemeinnutz vor Eigennutz (aber: was bedeutet das im konkreten Fall?)

Diskussion

Kritik: Vernachlässigung zentraler humaner Werte

Dem Ansatz wird vorgeworfen, in erster Linie das persönliche Glück der Menschen im Fokus zu haben und anderen ethischen Gütern wie » Menschenwürde, Gleichheit, Gerechtigkeit, Freiheit oder Tugendhaftigkeit zu wenig Wert beizumessen. Das kann in der Praxis dazu führen, dass auf der Basis einer teleologischen bzw. utilitaristischen Ethik Handlung gerechtfertigt werden, die andere Ansätze von Ethik als unmoralisch bewerten würden. Harte Verhörmassnahmen beispielsweise könnten nach diesem Ansatz gerechtfertigt werden, wenn sich dadurch voraussichtlich Leben retten liessen – auch wenn der Verhörte dabei sterben oder sich später als unschuldig herausstellen sollte. 

Einbezug der mittel- bis langfristigen Perspektive

Versteht man unter ‚Glück‘ jedoch nicht nur die kurzfristige hedonistische Bedürfnisbefriedigung des Einzelnen, sondern bezieht man die mittel- bis langfristigen Lebensperspektiven aller Menschen mit ein, so wird auch mit einem utilitaristischen Ansatz nachhaltigen Lösungen der Vorzug gegeben – wenigstens in der Theorie. 

Wer bestimmt die Wertevorzugsregeln?

Einmal abgesehen davon, dass die oben dargestellten Wertevorzugsregeln nicht unbedingt zu eindeutigen Antworten führen, stellt sich auch die Frage, wer überhaupt die Kompetenz hat, solche Regeln festzulegen und wie sie konkret anzuwenden sind. Es bräuchte dazu einen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess, wie ihn z.B. die » Diskursethik anbietet. 

Beispiele Dilemmasituationen

Flugzeugabschuss

Auf das oben stehende Beispiel angewendet, würde man auf der Basis eines rein utilitaristischen Ansatzes je nach Situation das Flugzeug möglicherweise abschiessen, um auf diese Art mehr Menschenleben retten zu können.

In einem etwas differenzierter argumentierenden teleologischen Ansatz müsste erst geklärt werden, bei welcher Handlungsalternative die Menschenwürde insgesamt am besten gewahrt bliebe bzw. das grösste allgemeine Wohlergehen erzeugt würde. Man würde auf diesem Weg jedoch kaum zu einer eindeutigen Antwort kommen, denn man wäre ja gezwungen, die Leben einer Vielzahl von Menschen gegeneinander aufzurechnen, was der Idee der Menschenwürde schon im Grundsatz widerspricht. 

Covid-19 Pandemie

Im Fall der Covid-19 Pandemie bestehen u.a. folgende ethische Spannungsfelder:

  •  Schutz des Lebens und Fürsorge für die Mitwelt vs. Schutz der verfassungsmässig garantierten Freiheitsrechte.
  • Schutz des Lebens und Fürsorge für die Mitwelt vs. Negative Auswirkungen eines Lockdown von Wirtschaft und Gesellschaftsleben.
  • Schutz von Menschenwürde und körperlicher Unversehrtheit vs. Schutz des Lebens und Verhinderung von wirtschaftlichen Schäden mittels (impliziter) Impfpflicht.
  • Abweisung von älteren Covid-19 Patienten mit wenig Überlebenschancen (Triage) im Fall von überlasteten Intensivstationen vs. Recht auf Leben.
  • Von den politischen Exekutiven ohne gesetzlich Grundlagen ergriffene Massnahmen vs. demokratische Legitimation (zu Beginn der 1. Welle).

Beispiel einer utilitaristischen Argumentation

Geradezu ein Paradebeispiel für eine rein utilitaristische Argumentation bot der ägyptische Tourismus-Unternehmer Samih Sawiris in einem Interview mit der Sonntags Zeitung Anfang Mai 2020: „Es gehen Milliarden von Franken verloren für ein paar Hundert weniger Tote.“ Der Aufwand in der Schweiz, um Menschen unter 60 Jahren vor Covid-19 zu retten, stehe in keinem Verhältnis zum Schaden für die Wirtschaft. Auf die hohen Kosten der Massnahmen angesprochen ergänzte Sawiris: „Hätten wir nur gerade ein Zehntel dieser Summen zur Verfügung, könnten wir in Ländern wie Ägypten hunderttausende Menschenleben retten.“ Solche Worte klingen ungewohnt in europäischen Ohren, denn bei Fragen über Leben und Tod haben wir im Normalfall ein schwergewichtig deontologisches Ethikverständnis. Es gilt die Handlungsmaxime, wonach jedes Leben möglichst zu erhalten ist, unabhängig von den Folgekosten. Entsprechend ablehnend bis moralisierend fiel denn auch die öffentliche Reaktion auf die Aussagen von Herrn Sawiris aus. Dabei ist freilich zu beachten, dass u.a. bei teuren Krebsbehandlungen sowie bei heiklen und teuren Operationen für Personen in hohem Alter gewisse Kosten-Nutzenüberlegungen durchaus akzeptiert sind. 

Diskussion

In einem etwas differenzierter argumentierenden teleologischen Ethikverständnis würde man vermutlich erst einmal feststellen, dass der Schutz von Menschenleben grundsätzlich höher zu gewichten ist als wirtschaftlicher Erfolg. Man würde allerdings die wirtschaftlichen Folgen der Massnahmen nicht ausblenden, da die wirtschaftliche Existenz, die Lebensqualität und die Lebensperspektive sehr vieler Menschen von den Massnahmen betroffen sind. Zudem würde man die Massnahmen auch in Bezug auf ihre Eignung hinterfragen. In Summe käme man vielleicht zum Schluss, dass man die Menschen bzw. schwergewichtig die Gruppe der vulnerablen Menschen so gut wie möglich schützt, Lockdown-Massnahmen nur wo absolut notwendig ergreift und ansonsten die Menschen ihr normales Leben so weit wie möglich weiterführen lässt. Die Schweizer Regierung hat versucht, einen vorsichtigen Mittelweg zu gehen zwischen tiefen Fallzahlen und Einschränkungen der Wirtschaft sowie des öffentlichen Lebens. Insgesamt hatte die Regierung für ihr Vorgehen die Akzeptanz der Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Wie die Resultate von drei Abstimmungen zur Covid-Gesetzgebung gezeigt haben, steht jedoch eine signifikante Minderheit der Bevölkerung den im Rahmen der Pandemie ergriffenen Massnahmen sowie der damit verbundenen Ausweitung der Rechte der staatlichen Organe kritisch bis ablehnend gegenüber. 

Wie würde eine allgemeine Impfpflicht aus utilitaristischer Sicht beurteilt? 

Im Grundsatz gilt auch hier das bereits im Kapitel zur deontologischen bzw. zur Gesinnungsethik ausgeführte: Auch wenn dies von Impfgegnern immer wieder bestritten oder zumindest in Frage gestellt wird, so ist nach aktuellem Stand des Wissens die möglichst vollständige Durchimpfung der gesamten Bevölkerung inkl. Kinder und Jugendliche der schnellste und wirkungsvollste Weg aus der Pandemie. Insofern würde eine hohe Impfquote die Bedingung für „das grösste Glück der grössten Anzahl Menschen“ erfüllen. Auch die Wertevorzugsregeln sprechen eher für eine Impfung:

  • Höhere Werte vor niederen. Die Impfung vermindert das Risiko einer schweren Erkrankung und reduziert die Sterberate. Bei einer Impfpflicht wären jedoch die Werte der persönlichen Freiheit sowie der Unversehrtheit des eigenen Körpers beeinträchtigt. Menschen, die aus religiösen Gründen gegen die Abtreibung sind, stossen sich zudem an der Nutzung von aus abgetriebenen Föten gewonnen Zellkulturen. Bei einer Impfpflicht müsste abgewogen werden, ob die Werte der persönlichen Freiheit und der Unversehrtheit des eigenen Körpers höher zu gewichten sind als das Leid durch schwere Krankheitsverläufe und eine hohe Sterberate sowie die hohen Kosten durch die Verlängerung der Pandemie.
  • Grössere Anzahl Menschen vor einer kleineren Zahl. Die radikalen Impfgegner sind zwar laut, aber letztlich in der Minderheit. 
  • Grössere Erfolgsaussicht vor Handlungen mit geringerer Erfolgschance. Der Nutzen der Impfung zur Überwindung der Pandemie ist sowohl in der Wissenschaft als auch bei der Mehrheit der Bevölkerung unbestritten.
  • Besser geeignete Massnahmen vor weniger geeigneten. Die Alternative zu einer Durchimpfung sind hohe Gesundheitskosten, eine hohe Sterberate, eine erhöhte Invaliditätsrate, hohe Staatsschulden sowie eine längerfristige Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch verschiedenste Massnahmen bis zu erneuten Lockdowns. Die Impfung ist vor diesem Hintergrund die besser geeignete Massnahme.

Fazit

Aus einer utilitaristischen Perspektive liessen sich sowohl eine Impfpflicht als auch Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und eine erhöhte Kostenbeteiligung für nicht Geimpfte im Fall einer Intensivbehandlung rechtfertigen.

Eine Impfpflicht würde zwar die Impfquote erhöhen, aber auch zu einer Radikalisierung der Impfgegner führen. Die Spaltung der Gesellschaft würde vertieft, der gesellschaftliche Zusammenhalt geschwächt. Zudem würden sich vermutlich viele Menschen unter Inkaufnahme von Nachteilen oder gar Strafen der Pflicht zu entziehen versuchen. Diese Menschen wären für das konstruktive Zusammenleben in unseren demokratischen Staaten möglicherweise für längere Zeit verloren.

Aus einer utilitaristischen Sicht liesse sich eine allgemeine Impfpflicht zwar eher begründen als aus einer rein gesinnungsethischen, deontologischen Perspektive. Schaut man sich jedoch die mittel- bis langfristige Perspektive an und berücksichtigt die zu erwartenden negativen Begleiterscheinungen einer allgemeinen Impfpflicht, fällt das Urteil auch aus einer utilitaristischen Perspektive nicht mehr so eindeutig aus.