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Spiritualität und Mystik

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay
Was ist Spiritualität – was ist Mystik? Was ist der Unterschied zwischen Mystik, Spiritualität und Religion?

Inhaltsverzeichnis

Was ist Spiritualität?

Spiritualität kommt vom lateinischen ’spiritus‘, was sich mit Atem, Hauch bzw. Lebenshauch oder Geist übersetzten lässt. Unter Spiritualität versteht man die Hinwendung zum Transzendenten, Göttlichen oder Geistigen. Gemäss Lexikon der Psychologie (2003) ist Spiritualität „die durch seinen Glauben begründete und durch seine konkreten Lebensbedingungen ausgeformte geistig-geistliche Orientierung und Lebenspraxis eines Menschen.“

„Mit dem Begriff Spiritualität wird eine nach Sinn und Bedeutung suchende Lebenseinstellung bezeichnet, bei der sich der/die Suchende ihres ‚göttlichen‘ Ursprungs bewusst ist (wobei sowohl ein transzendentes als auch ein immanentes göttliches Sein gemeint sein kann, z. B. Gott, Allah, JHW, Tao, Brahman, Prajna, All-Eines u. a.) um eine Verbundenheit mit anderen, mit der Natur, mit dem Göttlichen usw. spürt. Aus diesem Bewusstsein heraus bemüht er/sie sich um die konkrete Verwirklichung der Lehren, Erfahrungen oder Einsicht, was unmittelbare Auswirkungen auf die Lebensführung und die ethischen Bezüge hat.“ 

Büssing/Ostermann 2004 in Nikolaus Ladner, Welche Bedeutung hat Spiritualität für die Pädagogik? Wie Lehrkräfte spirituelle Praktiken im Unterricht einsetzen können, GRIN Publishing, 2020

Zusammenfassend lässt sich Spiritualität als die erfahr- bzw. erahnbare geistige Verbindung zum Transzendenten sowie die damit verbundene Lebenspraxis definieren.

Was ist Mystik?

Der Begriff ‚Mystik‘ kommt vom griechischen ‚mystikós‘, was so viel bedeutet wie ‚geheimnisvoll‘ im Sinne von ‚das Geheimnis der Erkenntnis Gottes lüften‘.

Mystik ist die Suche nach einer direkten und erfahrbaren Beziehung zum Absoluten. Unterstützt wird diese Suche durch einen spirituellen Pfad.

Gemäss Willigis Jäger ist 

„das eigentliche Ziel aller Weisen und Religionsgründer, die Menschen aus ihrem Dämmerzustand zu befreien und sie in die Erfahrung des Göttlichen zu führen.“

Willigis Jäger, Die Welle ist das Meer – Mystische Spiritualität, Herder, 2012, Seite 20

Falls es so etwas wie Gott bzw. das Absolute gibt und wir alle damit verbunden sind, ist es plausibel, dass es auch in irgend einer Form erfahrbar ist. Es ist auch plausibel, dass grundsätzlich alle Menschen das Potenzial zu dieser Erfahrung haben und dass alle Menschen das gleiche Absolute wahrnehmen. Studiert man die Berichte von Mystikern mit verschiedenen kulturellen und religiösen Hintergründen zu dieser Erfahrung, so finden sich viele Parallelen (siehe dazu z.B. William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung). So wird die Erfahrung des Absoluten als nicht in menschliche Sprache fassbar und jenseits aller Konzepte und Vorstellungen beschrieben (Unaussprechlichkeit), aber auch mit innerer Erkenntnis, Zuständen von Glückseligkeit, unendlicher Liebe und Mitgefühl verbunden. Diese Erfahrung ist subjektiv, bricht plötzlich durch und ist flüchtig. Die Erfahrung bedingt keine spezifische theologische Grundlage und kann grundsätzlich auch ohne entsprechendes Geistestraining spontan auftreten.

Im Christentum wird diese Erfahrung als ‚Unio Mystica‘ bezeichnet. Andere Religionen haben dafür ihre je eigenen Bezeichnungen, wie z.B. Leerheit, Erleuchtung, Satori, Samadhi, etc. 

» Gotteserfahrungen

» Wikipedia zum Thema Mystik

Mystische Wege und Methoden

Eine Möglichkeit, Klarheit über das Absolute zu gewinnen, ist einer mystischen Tradition zu folgen. Mystische Wege sind meist mit der Anwendung gewisser spiritueller Methoden bzw. Praktiken gekoppelt.

Die Methode alleine reicht jedoch nicht aus. In der Regel werden sowohl eine essenzielle Lehre als auch die Methoden durch Lehrer übertragen, die selbst die direkte Erfahrung des Absoluten haben und oft in einer Übertragungslinie von geistigen Lehrern stehen, die manchmal bis auf die Religionsbegründer zurückreicht.

Die Übertragung ist jeweils auf die spezifischen Bedürfnisse der einzelnen Schüler ausgerichtet. Die Schüler werden dabei schrittweise an die essenzielle Erfahrung des Absoluten herangeführt. Der Weg des Mystikers kann jedoch nicht auf die Anwendung von Techniken reduziert werden. Es ist in der Regel notwendig, sich unter der Führung eines geistigen Lehrers auf einen mitunter herausfordernden persönlichen Prozess einzulassen.

Ein solcher Weg schliesst nicht aus, Gutes zu tun und anderen helfen. Im Gegenteil: Wenn sich dieses aus echtem innerem Mitgefühl entwickelte Bedürfnis manifestiert, so ist dies als positives Zeichen auf dem spirituellen Pfad zu betrachten. Gutes zu tun alleine reicht allerdings nicht aus, um auf einem solchen Pfad voranzukommen. 

Die Essenz der Mystik besteht in einer Ausrichtung auf das Absolute. Diese Ausrichtung kann jedoch nur durch eine Transformation des Menschen erreicht werden – weg von der Selbstbezogenheit (Ego) hin zu einer Ausrichtung auf das Absolute.

Mystische Traditionen

Jede Weltreligion kennt mystische Traditionen bzw. essenzielle, praxis- und erfahrungsorientierte spirituelle Pfade, wie die folgenden Beispiele zeigen:

  • Buddhismus: Zen, Dzogchen
  • Christentum: Wüstenväter, Hesychasmus
  • Hinduismus: Zahlreiche, an einzelne Lehrer gekoppelte Schulen, z.B. im Advaita Vedanta
  • Islam: Sufismus (verschiedene Schulen)
  • Judentum: Kabbala (verschiedene Schulen)

Die Aufzählung ist nicht abschliessend. Da der Pfad des Mystikers nicht an ein bestimmtes Dogma oder eine bestimmte Schule gebunden ist, gab und gibt es viele Mystiker, die keiner spezifischen Schule, ja oft nicht einmal einer Religion zuzuordnen sind. 

Waren die Religionsbegründer Mystiker?

Das ist insofern eine interessante Frage als Mystiker in den institutionalisierten Religionen oft einen schweren Stand hatten bzw. teilweise immer noch haben. Einer der grössten christlichen Mystiker, Johannes vom Kreuz, wurde für neun Monate im Ordensgefängnis des Karmelitenklosters in Toledo eingekerkert, bis ihm die Flucht gelang. Islamische Mystiker, Sufis, wurden und werden in verschiedenen muslimischen Ländern verfolgt (z.B. in Saudi Arabien und in Pakistan).

Das Studium der Heiligen Schriften der verschiedenen Religionen legt jedoch nahe, dass die Religionsbegründer aus einer direkten inneren Erfahrung des Absoluten gelehrt haben und ihr Hauptanliegen darin bestanden hat, uns diese Erfahrung näherzubringen. Insofern entsprechen sie der Definition von Mystikern. 

Auch wenn die christlichen Kirchen das nicht gerne hören mögen, so war Jesus wohl einer der grössten Mystiker der Weltgeschichte.

Der Unterschied zwischen Spiritualität und Mystik

Während sich die Mystik meist ausserhalb institutionalisierter Religion bewegt, wird unter Spiritualität häufig auch die gelebte Religiosität im Rahmen der institutionalisierten Religion verstanden, z.B. im Gebet, in guten Taten oder in tugendhaftem Verhalten. Im Alltag werden die beiden Begriffe oft synonym verwendet. 

Der Unterschied zwischen Religion, Mystik und Spiritualität

In der Praxis wird unter ‚Mystik‘ und ‚Spiritualität‘ eher die individuelle und direkte Auseinandersetzung mit dem Absoluten verstanden, während mit dem Begriff ‚Religion‘ immer auch ein formaler theologisch-philosophischer Rahmen, verbindliche Verhaltensnormen sowie Institutionen assoziiert werden.

Spiritualität betont mehr die individuelle, Religion mehr die institutionalisierte Form der Auseinandersetzung mit dem Absoluten.

Religionen haben einen spirituellen Auftrag, dem sie entsprechend ihrem jeweiligen Glaubenssystem auf unterschiedliche Weise nachkommen. Religion ist im besten Fall gelebte, oft aber nur institutionalisierte Spiritualität. 

Religion aus mystisch-spiritueller Sicht

Aus einer mystisch-spirituellen Perspektive lässt sich der Gegenstand von Religion, nämlich das Absolute, nicht intellektuell verstehen und in Konzepte fassen. Insofern kann eine Religion nichts anderes sein als ein möglicher Ansatzpunkt, um mit dem Thema umzugehen.

Der christliche Mystiker Willigis Jäger bringt es auf den Punkt: 

„Religion […] ist ein Deutungsversuch unserer Existenz. Sie ist ein Modell, das uns einen Platz im Universum zu geben versucht. Ein solches Modell sollte man jedoch nicht verabsolutieren. Alle Modelle sind Deutungsversuche dieses letztlich unfassbaren kosmischen Geschehens.“

Willigis Jäger, Westöstliche Weisheit, 2007: Theseus-Verlag, Seite 33

Aus der Perspektive eines Mystikers ist das Absolute immer präsent und wir sind damit ständig verbunden. Nur haben wir meistens keinen bewussten Zugang dazu. Dies wird als eine Hauptursache für die leidvolle Erfahrung des irdischen Daseins angesehen. Religionen sind letztlich ‚Transportmittel‘ die uns helfen, ‚den Fluss des Leidens‘ bzw. unsere Trennung vom Absoluten zu überwinden. Welches Transportmittel bzw. welche Religion oder welche Schule uns dabei am besten unterstützt, muss jeder Mensch für sich selbst entscheiden. 

Literatur

Willigis Jäger, Westöstliche Weisheit, Theseus-Verlag, 2007

Willigis Jäger, Die Welle ist das Meer – Mystische Spiritualität, Herder, 2012

William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Insel Verlag, 2003

Franz-Xaver Jans, Das Tor zur Rückseite des Herzens. Schriften zur Kontemplation, Band 9, Vier Tuerme GmbH, 1994

Richard Reschika, Praxis christlicher Mystik, Verlag Herder, 2007

Christian M. Rutishauser (Hrsg.), Mystische Wege in den Weltreligionen, Tagungsband einer Seminarreihe im Lassalle-Haus, Lassalle-Haus Schönbrunn, 2003

Igor Smolitsch und Matthias Dietz, Kleine Philokalie. Klassiker der Meditation Betrachtungen der Mönchsväter über das Herzensgebet, Patmos Verlag, 2006