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Gotteserfahrungen

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay
Die Existenz eines Absoluten ist nicht zu beweisen, aber möglicherweise erfahrbar. Berichte über Gotteserfahrungen sind aus verschiedenen Kulturen und Zeitaltern überliefert. Sie weisen trotz des unterschiedlichen kulturellen Hintergrunds interessante Parallelen auf. So wird die Erfahrung als nicht in menschliche Sprache fassbar und jenseits aller Konzepte und Vorstellungen beschrieben (Unaussprechlichkeit), aber auch mit innerer Erkenntnis, Zuständen von Glückseligkeit, unendlicher Liebe und Mitgefühl verbunden.

Inhaltsverzeichnis

Die Welle ist das Meer – die Perspektive der Mystik

In der Mystik wird mehr Gewicht auf die praktische Gottessuche bzw. Gotteserfahrung gelegt als auf Schriften und theoretische Konzepte. Mystiker aller Zeiten und Religionen haben ihre Erkenntnisse sowie ihre tiefen Erfahrungen des Göttlichen dennoch immer wieder schriftlich festgehalten. Als Beispiel sei an dieser Stelle ein Ausschnitt auf dem lesenswerten Buch von Willigis Jäger „Die Welle ist das Meer“ wiedergegeben:

„Wenn wir uns die Erste Wirklichkeit als einen unendlichen Ozean vorstellen, dann sind wir so etwas wie die Wellen auf diesem Meer. Wenn nun die Welle erfährt ‚Ich bin das Meer‘, dann sind da immer noch zwei: Welle und Meer. In der mystischen Erfahrung aber wird auch diese Dualität überstiegen. Das Ich der Welle verfliesst, und an seiner statt erfährt das Meer sich als Welle. Es erfährt sich in der Einheit von beiden und als Einheit von beiden. Diesen Schritt vollzieht der Mystiker nicht, er widerfährt ihm. Er betrachtet die Wirklichkeit nicht mehr als sein Gegenüber, gleichsam von aussen, sondern er erfährt die Wirklichkeit von innen. Im Bild gesprochen: Er erfährt: Alles ist Welle und Ozean zugleich. Alles ist Ausdrucksform dieser einen Wirklichkeit. Und da alles Ausdrucksform derselben Wirklichkeit ist, gibt es auch eine absolute Verbundenheit mit allem. Das Meer ist alle Wellen und alle Wellen sind eine Einheit. Alles ist Kosmos, und alles im Kosmos ist Manifestation desselben kosmischen Seins. Das aber erfährt der Mystiker gerade darin, dass alle Unterscheidungen zwischen ihm und den Manifestationen des Seins aufhören. Mystik ist nicht jenseits von Gott und Welt. Mystik ist Gott und Welt, ein unteilbares Eines. Die Spannung zwischen den beiden Polen wird deshalb nicht aufgehoben. Es ist die Spannung zwischen dem einen Ende eines Stabes und dem anderen. Es ist die Spannung zwischen Welle und Meer, zwischen Ast und Baum. Gott und Mensch werden daher auch nicht gleich gesetzt. Das Meer offenbart sich als Welle. Meer und Welle kann man zwar verschieden ansprechen, aber ihr Wesen ist Wasser. Die Hand hat zwei Seiten. Wer mit dem Verstand hinschaut, muss eine Seite nach der anderen betrachten. Von innen werden beide Seiten als Eines erfahren. Deshalb ist es zugleich eine Erfahrung der völligen Leere und der totalen Fülle.“ 

Willigis Jäger, Die Welle ist das Meer, Seite 42f

Viele Mystiker berichten davon, dass in einer Gotteserfahrung die Erscheinungen der Welt „durchsichtiger“ werden und sie in allem was sie sehen und erleben, Gott bzw. das Absolute zu erkennen vermögen. Sie berichten auch davon, dass sie sich nicht mehr als von ihrer Um- und Mitwelt getrennte Geschöpfe wahrnehmen (Aufhebung von Subjekt und Objekt). Der fortgeschrittene Mystiker und Gottsucher erkennt hinter allen Erscheinungen dieser Welt (auch den hässlichen) Gott und wendet sich in Barmherzigkeit der Welt und ihren Geschöpfen zu.

Beispiele von Gotteserfahrungen

In der religiösen und spirituellen Literatur sowie im Internet finden sich eine Reihe von Beschreibungen von Gotteserfahrungen aus unterschiedlichen historischen und kulturellen Kontexten.

Bei allen diesen Beschreibungen ist freilich grosse Vorsicht geboten, denn wir wissen nicht, ob diese Menschen tatsächlich eine solche Erfahrung gemacht haben und wenn ja, diese auch korrekt wiedergeben. Das gilt insbesondere für die teilweise ziemlich reisserisch aufgemachten Berichte esoterisch angehauchter Autoren über Gotteserfahrungen im Rahmen von Nahtoderfahrungen.

Die folgenden exemplarischen Beispiele mögen dennoch einen Eindruck davon zu vermitteln, wie man sich eine solche Erfahrung vorstellen kann. 

Erleuchtungs- bzw. Gotteserfahrung eines Tibetischen Mönchs und Meditationsmeisters

„(…) mein Geist war glückselig geworden und erweiterte sich, bis er das gesamte Universum ausfüllte. (…) Das ganze Universum öffnete sich und wurde mit dem Bewusstsein vollkommen vereint. Kein begrifflicher Geist. Ich war nicht mehr innerhalb des Universums. Das Universum war innerhalb von mir. Kein vom Universum getrenntes Ich. Keine Richtung. Kein innerhalb oder ausserhalb. Keine Wahrnehmung oder Nichtwahrnehmung. Kein Selbst oder Nicht-Selbst. Kein Leben, kein Sterben. (…) Ich verstand noch immer, was vor sich ging, aber nicht durch Kommentar, Stimme oder Bild. Diese Art der Kognition zeigte sich nicht mehr. Die Klarheit und Lichthaftigkeit des Gewahrseins, jenseits von Begriffen, jenseits des fixierten Geistes, wurde zum ausschliesslichen Instrument von Wissen. Ich war nicht mehr von der Empfindung eines definierten Körper oder Geistes begrenzt. Zwischen mir, meinem Geist, meiner Haut, meinem Körper und dem ganzen Rest der Welt gab es keine Trennung. Kein Phänomen existierte getrennt von mir. Erfahrungen fanden statt, aber nicht mehr durch ein separates Ich. Wahrnehmungen traten auf, aber ohne Rückbezug auf irgendjemanden. Überhaupt keine Bezüge. Keine Erinnerung. Wahrnehmen, aber kein Wahrnehmender. Das Ich, das ich kürzlich gewesen war – krank, gesund, Bettler, Buddhist -, verschwand wie Wolken, die über einen sonnenbeschienen Himmel ziehen. (…) In den folgenden fünf oder sechs Stunden hatte ich keine Berührung mit dem begrifflichen Geist. Mein Geist vermischte sich mit dem Raum wie ein in den Ozean fallender Tropfen Wasser, der unklar, grenzenlos und nicht erkennbar wird, obwohl es ihn noch immer gibt. Es ging nicht mehr darum, dass ich Bäume sah, denn ich war zu Bäumen geworden. Ich und Bäume waren eins. Bäume waren nicht das Objekt des Gewahrseins: Sie manifestierten das Gewahrsein. Sterne waren nicht das Objekt des Wohlgefallens, sondern das Wohlgefallen selbst. Kein getrenntes Ich liebte die Welt. Die Welt war Liebe. Mein perfektes Zuhause. Weit und intim. Jedes Teilchen sprühte vor Liebe, war liquide, fliessend, ohne Barrieren. Ich war ein sprühendes Teilchen, kein interpretativer Geist, Klarheit jenseits von Gedanken. Pulsierend, energiegeladen, allsehend. Mein Gewahrsein ging nicht auf etwas zu, doch alles tauchte auf, gleich einem leeren Spiegel, der alles um sich herum aufnimmt und reflektiert. Eine Blume taucht im leeren Spiegel des Geistes auf, und der Geist nimmt ihr Vorhandensein ohne Zuneigung oder Ablehnung an. Es war, als könnte ich in die Unendlichkeit sehen, als könnte ich durch Bäume hindurchsehen, als könnte ich Bäume sein. Ich kann nicht einmal sagen, dass ich atmete. Oder dass mein Herz weiterschlug. Es gab kein individuelles Irgendetwas, keine dualistische Wahrnehmung. Kein Körper, kein Geist, nur Bewusstsein.“ 

Yongey Mingyur Rinpoche, Auf dem Weg – eine Reise zum wahren Sinn des Lebens, btb Verlag, 2020, Seite 331ff

Gotteserfahrung einer Zen-Schülerin

„Im Nichts angekommen, wird alles zu nichts. Es gibt hier kein Gesetz, kein Gut und Böse, kein Leben und keinen Tod. Keinen Gott, keine Erlösung, keine Sünden, kein Karma. Keine guten und keine bösen Absichten, keine Vorstellungen mehr, keine Werte mehr. Kein Morgen und kein Gestern. Nur dieser eine wunderbare Augenblick. Ich bin absolut frei. Es ist mein Zuhause, es ist unser aller Zuhause. Es gibt nichts, keinen Menschen, kein Ding, kein Tier, kein Staubkorn, das nicht aus ihm entspringt. Es ist wunderbar. In mir ist absoluter Frieden und Liebe.“ 

Willigis Jäger, Geh den inneren Weg – Texte der Achtsamkeit und Kontemplation, Herder, 2019, Seite 16f

Gotteserfahrungen im Nachgang einer Yoga Klausur

„(…) sie führte in eine immer größer werdende Bewußtheit und zu einer geistigen Wachheit, ja, zu einer Über-Wachheit. Am Ende kam es zu einer raum und -zeitlosen Erfahrung des ‚Kosmischen Bewußtseins‘. Die Erfahrung dort war: ich bin eins mit Allem, mit dem gesamten Kosmos, ich bin reines Sein. Der Zustand dauerte vielleicht 20 oder 30 Minuten, es hätte auch eine Ewigkeit vergangen sein können, es war ja ein Zustand der Zeitlosigkeit. Hier hatte es auch kein ‚Ich-Gefühl‘, keine Ich-Erfahrung mehr gegeben.“
„In der ersten ‚Erleuchtungsstufe‘ erfährt die sich hingebende Seele sich als eins mit dem ganzen Universum, als nichtgetrenntes Sein in allem Sein. Mystiker bezeichnen diesen Seinszustand als frei von Raum und Zeit, als wären Augenblick und Ewigkeit während der Erleuchtung verschmolzen. Dieser Erfahrungs- und Kenntniszustand wird innerhalb der Kirchen als ‚kosmisches‘ oder auch als ‚ozeanisches Bewusstsein‘ bezeichnet.“ 
„Zuerst befand ich mich im Zustand des kosmischen Bewusstseins, es gab kein Ich-Bewusstsein mehr, nur noch Sein in raum- und zeitloser Seligkeit. Das Empfinden war eine gegenstandslose Wirklichkeit. Aus dem Nichts heraus war plötzlich Liebe da, unbeschreibliche, unvorstellbare Liebe. Sie kam völlig überraschend, füllte das ganze Wesen aus und verdrängte so den vorigen Zustand des kosmischen Bewusstseins. Und diese Liebe wuchs ins Unendliche, aber zeitlos wie eine Explosion, bis nur noch Liebe da war, absolute Liebe. Dieser Zustand absoluter Liebe ist nicht mit Worten oder Begriffen beschreibbar, aber er war anders und vollkommener als die Seinserfahrung im kosmischen Bewusstsein. (…) Er hat die absolute kosmische Liebe, die Erfahrung des Einsseins mit allen Wesen und mit allem, was ist, also auch mit dem allgegenwärtigen Schöpfergeist, erlebt und erfahren. (…)
In der dritten Erleuchtungsstufe verwandelt sich das Bewusstsein erneut. (…) Hierfür ein Gleichnis: Wie, wenn das Licht unserer Sonne in die noch größere Zentralsonne hineinstürzt – mit Ihrer ganzen Substanz und nun Licht zu dieser wird, so könnte man den Wandel vom Christusbewusstsein zum All- Bewusstsein darstellen. Für die Seele, die vorher mit allen Seelen und mit der Allseele eins war, ist es, als wenn diese Seele nun in die Weite des Kosmos hinaus explodiert und zur Weite des Kosmos wird, mit der Erfahrung des ‚Alles und des Nichts‘ im Zustand des Nirvana. Der aus dem Nirvana wiedergeborene wird berichten, dass da nichts mehr war, auch kein Urgrund, auch kein Welt-Ethos, auch kein Gott mehr. Die letzte bezeugbare und personale Gotterfahrung war noch in der Liebes-Seligkeit im Christusbewusstsein. So mag das Christusbewusstsein die Stufe sein, auf der eine personale Gotteserfahrung durch die Liebe noch möglich ist. Doch im All-Bewusstsein und schließlich im Nirvana wird alles apersonal.“ 

Hartmut Neumann, Das neue Gottes- und Menschenbild, » Link…

Einordnung von Gotteserfahrungen

Gotteserfahrungen sind subjektiv und nicht überprüfbar. Wir wissen nicht, ob die Personen die Erfahrungen tatsächlich gemacht haben oder ob die Berichte ihrer Phantasie entsprungen sind. Es ist dennoch interessant festzustellen, dass die Erfahrungen unabhängig vom Kontext gewisse Parallelen aufweisen:

  • Unaussprechlichkeit. Die Erfahrung wird als subjektiv tiefgreifend und prägend erlebt, kann aber nur schwer in Worte gefasst werden. Daraus ergeben sich oft paradoxe Aussagen wie z.B. ‚dunkles Licht‘ oder ‚wunderbar schrecklich und wunderbar zart‘.
  • Erleuchtungsbewusstsein. Erfahrung von geistiger Wachheit und tiefer Erkenntnis (Offenbarung). Direkte Einsicht in Gott und sein Wirken, wie sie vom diskursiven Verstand nicht ausgelotet werden könnten.
  • Einheitserfahrung mit der Welt, dem Universum oder gar mit Gott – Auflösung des Getrenntseins von der Um- und Mitwelt bzw. von Subjekt und Objekt. 
  • Erfahrungen von grosser Liebe, Glückseligkeit und Ekstase, wie sie in der Liebesmystik ihren Niederschlag finden.
  • Erfahrung von Zeitlosigkeit und Ewigkeit. Überschreiten der Begrenzung durch Raum und Zeit.
  • Passivität. Mystische Erfahrungen treten spontan auf und lassen sich auch mit spirituellen Techniken nicht bewusst hervorrufen.
  • Flüchtigkeit. Die Erfahrung ist zeitlich begrenzt.

Beurteilung

Berichte über Gotteserfahrungen sind zwar kein Beweis, aber immerhin ein mögliches Indiz dafür, dass jenseits unserer Alltagserfahrung ein für Menschen grundsätzlich zugänglicher ‚Erfahrungsraum‘ existiert – wie immer dieser zustande kommen mag. Die Mystiker und Religionsstifter haben in dieser Erfahrung das Absolute, den Urgrund bzw. die Quelle allen Seins erkannt. Sie haben ihrer Erfahrung unterschiedliche Namen gegeben und ihren Mitmenschen kulturspezifische Zugänge dazu aufgezeigt, es scheint sich aber letztlich um die gleiche Grunderfahrung zu handeln.