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Ethische Entscheidfindung

Wie können ethisch reflektierte Enscheide gefällt werden? Dreistufenmodell zur ethischen Entscheidfindung: Diskursethischer Ansatz unter Einbezug einer deontologischen, einer teleologischen und einer nachhaltig-holistischen Perspektive.

Inhaltsverzeichnis

Das Dreistufenmodell für ethische Entscheide

Es gibt keinen idealen, allgemein akzeptierten Ansatz von ethischer Entscheidfindung. In der Praxis dürfte sich das folgende pragmatische Dreistufenmodell aus einer Kombination von Massnahmen bewähren:

1. Voraussetzungen schaffen

Durch eine allgemeine Sensibilisierung auf ethische Fragestellungen, die Schulung von ethischen Grundlagen und die gezielte Förderung von Tugenden in Elternhaus, Kindergarten und Schule lässt sich die notwendige Qualität der ethischen Entscheidfindung verbessern. » Tugendethik / » Spirituelle Ethik 

2. Diskursethischer Einbezug aller Stakeholder

Im Rahmen einer säkularen Ethik für die westliche Welt ist zurzeit ein diskursethischer Ansatz der vermutlich glaubwürdigste und pragmatischste Weg für die Klärung von ethischen Fragestellungen. Wichtig ist dabei der Einbezug aller relevanter Stakeholder in den Entscheidprozess sowie deren Sensibilisierung auf ethische Fragestellungen. » Diskursethik 

3. Die richtigen Fragen stellen

Im Rahmen des ethischen Diskurses wird eine ethische Problemstellung am besten von verschiedenen Seiten her beleuchtet, nämlich aus einer deontologischen, einer teleologischen und einer integrativ-holistischen Perspektive. 

Was wäre vom Grundsatz her richtig? (Deontologische Perspektive)

Erst werden die verschiedenen Handlungsalternativen aus einer deontologischen Perspektive (Gesinnungsethik) beurteilt, d.h. erst einmal die Handlungen selbst, ohne Berücksichtigung von deren Folgen. Dazu wird der kategorische Imperativ nach Immanuel Kant (1724–1804) herangezogen: „Handle so wie Du möchtest, dass alle anderen auch handeln würden.“ Es geht also erst einmal nicht um die Folgen, sondern um die moralische Absicht, die hinter einer Entscheidung steht. » Gesinnungsethik

Fragen: Was würde geschehen, wenn alle anderen (Menschen, Stakeholder, Unternehmen, Kommunen, etc.) auch so entscheiden würden? Wäre es wünschenswert, wenn alle anderen auch so entscheiden würden?

Beispiel Impfpflicht: Wie wäre eine Impfpflicht gegen Covid-19 aus deontologischer Sicht zu beurteilen? Je mehr Menschen sich impfen lassen, umso schneller wird die Pandemie überwunden, umso weniger Einschränkungen sind notwendig, umso weniger Menschen werden ernsthaft krank oder sterben gar und umso tiefer sind die Gesamtkosten der Pandemie. Insofern wäre es wünschenswert, wenn die Impfquote möglichst hoch wäre. Die Impfung ist somit nicht nur eine Frage des persönlichen Entscheids, sondern auch eine Frage der Mitverantwortung für die Gesellschaft als Ganzes. Aus dieser Perspektive lässt sich eine persönliche moralische Pflicht zur Impfung ableiten.
    Eine allgemeine Impfpflicht würde jedoch bedeuten, dass ein erheblicher Anteil der Bevölkerung gegen den eigenen Willen und teilweise auch gegen ihre religiöse Überzeugung zum Impfen gezwungen würde. Da die persönliche Freiheit, die körperliche Unversehrtheit und die freie Religionsausübung in unserer Kultur einen hohen Stellenwert geniessen, steht eine Impfpflicht im Widerspruch zu zentralen menschlichen Grundrechten. Aus einer deontologischen Perspektive liesse sich eine allgemeine Impfpflicht deshalb schwer rechtfertigen, wohl aber Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und eine erhöhte Kostenbeteiligung für nicht Geimpfte im Fall einer Intensivbehandlung.

Was wären die möglichen Folgen? (Teleologische / Utilitaristische Perspektive)

Im Gegensatz zum deontologischen Ansatz werden hier nicht die Handlungen selbst, sondern deren Folgen beurteilt. Im Ansatz des Utilitarismus nach Mills (1806–1873) spielt der Nutzen einer Entscheidung die zentrale Rolle, und zwar der Nutzen im Hinblick auf das Glück, das die Menschen als Folge der Entscheidung erfahren. Dieses Glück soll möglichst maximal werden, und zwar in der Gesamtheit für alle Betroffenen („das grösste Glück der grössten Zahl“)» Verantwortungsethik

Fragen: Mit welcher Entscheidung wären Lebensqualität, Glück und Zufriedenheit aller Betroffenen voraussichtlich am höchsten? Wer sind die Verlierer und was verlieren sie? Wie sind diese Verluste im Vergleich zum Gewinn der anderen Menschen zu gewichten?

Beispiel Impfpflicht: Wie oben bereits beschrieben, würde uns eine hohe Impfquote aller Voraussicht nach ermöglichen, schneller zu einem „normalen“ Leben zurückzukehren. Insofern wäre bei einer hohen Impfquote „das grösste Glück der grössten Zahl“ gegeben. Auch die Wertevorzugsregeln (höhere Werte vor niederen, grössere Anzahl Menschen vor einer kleineren Zahl, grössere Erfolgsaussicht vor Handlungen mit geringerer Erfolgschance, besser geeignete Massnahmen vor weniger geeigneten) sprechen eher für eine Impfung.
    Nun gibt es jedoch, gerade im deutschsprachigen Raum, eine erhebliche Minderheit an Menschen, die eine Impfung aus verschiedenen Gründen ablehnen bzw. wenn immer möglich vermeiden möchten. Diese Menschen gewichten ihren religiösen Glauben, ihre persönliche Freiheit und ihre körperliche Unversehrtheit höher ein als das Risiko und die Folgen einer ernsthaften Erkrankung. In vielen Fällen erfolgt diese Gewichtung aufgrund einer Fehleinschätzung durch Fehlinformationen (Fake News), Besserwisserei oder Querulantentum, teilweise aber auch aus moralischen und religiösen Gründen. Aus einer utilitaristischen Perspektive könnte man argumentieren, dass es sich hier um eine Minderheit handelt, die eine Überwindung der Pandemie für die ganze Bevölkerung verzögert und somit das „das grösste Glück der grössten Zahl“ gefährdet. Aus dieser Perspektive liesse sich eine allgemeine Impfpflicht grundsätzlich rechtfertigen. Eine allgemeine Impfpflicht würde jedoch die Spaltung der Gesellschaft fördern und zu sozialer Unrast führen, was in der Bilanz „des grössten Glücks der grössten Zahl“ negativ zu Buche schlagen würde. 

Nachhaltig-holistischen Perspektive

Gerade in Zeiten des Klimawandels und sozialer Segregation wird diese Perspektive wichtig. Jonas (1903–1993) z.B. fordert, dass Entscheidungen immer so getroffen werden sollten, dass sowohl menschliches Leben, als auch der ganze Planet erhalten und geschützt werden. Es geht somit um die Nachhaltigkeit bzw. die Langzeitfolgen von Entscheiden.

Fragen: Welches sind die langfristigen Folgen einer Entscheidung für alle direkt und indirekt Betroffenen? Wirkt sich eine Entscheidung nachhaltig positiv auf Mensch und Umwelt aus? Sind die Gefahren für Mensch und Umwelt genügend berücksichtigt und soweit möglich abgesichert?

Beispiel Impfpflicht: Aus der Beantwortung der oben stehenden Fragen liesse sich eine generelle Impfpflicht für alle Menschen nur aus einer kurzfristigen utilitaristischen Perspektive ableiten. Zudem ist noch nicht klar, wie sich das Virus weiterentwickeln und wie die Menschen auf die wiederholten Auffrischimpfungen reagieren werden. Das spricht eher gegen eine allgemeine Impfpflicht. Eine Impfpflicht wäre allenfalls in sensiblen Bereichen wie z.B. dem Gesundheitswesen und der Altenpflege denkbar, da hier eine Ansteckung mit dem Virus zu einer unmittelbaren Gefährdung von Leben führen kann. Würden durch eine neue Mutation sowohl die Infektions- als auch die Sterberate massiv ansteigen, könnte eine allgemeine Impfpflicht unter Umständen aus ethischer Sicht gerechtfertigt sein. Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und ev. auch ein erhöhter Selbstkostenanteil von Ungeimpften für die Spitalbehandlung wären aus einer ethischen Perspektive denkbar, müssten jedoch durch einen politischen Prozess rechtlich entsprechend abgesichert sein.

Diskussion

Die obenstehenden Fragen aus den drei ethischen Perspektiven werden im Rahmen eines ethischen Diskurses erst einzeln und dann in ihrer Gesamtheit diskutiert. Der Entscheid erfolgt wenn möglich im Konsens oder per Abstimmung.

Bei der Diskussion der obenstehenden Fragen gibt es keine absolut richtigen oder falschen Antworten. Bei jeder Frage kann man aus guten Gründen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.

Beispielsweise mag aus einer deontologischen Perspektive eine Handlung wegen zweifelhafter Absichten unmoralisch sein, aus teleologischer Sicht aufgrund des eintretenden Nutzens jedoch ethisch vertretbar.

Aus diesem Grund ist der Einbezug aller Beteiligten in einen kritischen Diskurs solcher Fragestellungen zentral.

Dabei ist eine ethische Schulung und Sensibilisierung der am Diskurs beteiligten Personen eine wichtige Voraussetzung für die Qualität der Entscheide.