Einleitung
Keine allgemein akzeptierte Definition
Eine allgemein akzeptierte Definition des Begriffs „Religion“ existiert nicht. Jede Definition des Begriffs basiert letztlich auf einer spezifischen Vorstellung von Religion und wird damit indirekt auch zu einer Theorie über Religion in Kurzform. Dessen sollte man sich bei jeder Definition des Begriffs bewusst sein.
Den Begriff vermeiden?
Einzelne Autoren plädieren aufgrund der Schwierigkeit einer adäquaten Definition denn auch dafür, den Begriff „Religion“ ganz aufzugeben und ihn z.B. durch klarer definierbare Kategorien, wie z.B. „Ritualgemeinschaft“, „Wertesystem“, etc. zu ersetzen. Der Kulturanthropologe Talal Asad hat z.B. den Standpunkt vertreten, dass Religionen als je eigenständige soziale und kulturelle Konstruktionsprozesse betrachtet werden müssten, die eng mit Machtverhältnissen und historischen Kontexten verbunden seien (vgl. dazu Talal Asad zu Clifford Geertz). Er steht einer universellen Definition des Begriffs „Religion“ deshalb skeptisch gegenüber.
Gegen die Vermeidung des Begriffs spricht jedoch, dass er im alltäglichen und produktiven Sprachgebrauch einen hohen Stellenwert hat und dass ein anderer Begriff nicht notwendigerweise weniger problematisch wäre. Allerdings sollte bei der Verwendung des Begriffs immer geklärt werden, wie er zu verstehen ist. Damit wird vermieden, dass eine reine Insiderperspektive aus einem spezifischen Religionsverständnis heraus generalisiert wird, z.B. die theistische Glaubensauffassung eines personalen Schöpfergottes.
Typen von Definitionen
In der Wissenschaft wird i.d.R. zwischen einer funktionalistischen, einer substanzialistischen und einer polythetischen Religionsdefinition unterschieden. Die drei Ansätze werden im Folgenden näher vorgestellt. Im Anschluss wird die Position von espirit dargelegt. ↑
Substanzialistischer Religionsbegriff
Fokus auf die Substanz einer Religion
Im Rahmen eines substanzialistischen Religionsbegriffs wird das Phänomen Religion über seine innere Substanz bzw. seinen inneren Gehalt definiert.
„Die Erscheinungen sind nur zu untersuchen um des Wesens willen, das ihnen zugrunde liegt, und im Blick auf dieses. Man darf nie an der äußeren Schale hängen bleiben, sondern muss überall hindurchbohren zum Kern der religiösen Erfahrung; von den feststehenden Formen (Kultformen und Dogmen) müssen wir zum unmittelbaren religiösen Leben vordringen.“ Friedrich Heiler, Erscheinungsformen und Wesen der Religion, Stuttgart: Kohlhammer, 1979, 14-21.↑
Eine verbreitete substanzialistische Definition ist diejenige von Gustav Mensching:
„Religion ist erlebnishafte Begegnung mit dem Heiligen und antwortendes Handeln des vom Heiligen bestimmten Menschen.“
Nach dieser Definition kann Religion u.a. als ein Phänomen verstanden werden, das das Heilige, Übernatürliche oder Absolute zum Wesen hat. Religion wird somit zur Auseinandersetzung des Menschen mit dem Heiligen oder Absoluten.
Diskussion
Am substanzialistischen Religionsbegriff wird folgende Kritik angebracht:
- Es besteht die Gefahr einer zu eng gefassten Definition. Es gibt Religionen, wie z.B. den Buddhismus, wo Begriffe wie „heilig“ oder „transzendent“ nicht verwendet werden, ja die sich bis zu einem gewissen Grad sogar als atheistisch verstehen (» Der Buddhismus – eine gottlose Religion?). Eine zu eng gefasste substanzialistische Religionsdefinition könnte deshalb zu einem Ausschluss von als Weltreligionen anerkannten Bewegungen führen.
- Der Begriff „Substanz“ ist definitionsbedürftig. Was genau wird z.B. unter „heilig“ oder „übernatürlich“ verstanden?
- Die in allen Religionen zentrale soziale Funktion von Religionsgemeinschaften sowie deren kultureller und historischer Kontext werden nicht berücksichtigt.
- Es besteht die Gefahr einer rekursiven Definition, und zwar dann, wenn z.B. auf der einen Seite die Definition von Religion einen Bezug zum Übernatürlichen bzw. Heiligen enthält, auf der anderen Seite aber alles Übernatürliche bzw. Heilige automatisch mit Religion assoziiert wird.
- Dem Ansatz wird auch vorgeworfen, zu nahe am Prototyp einer christlichen Glaubensvorstellung zu sein. ↑
Funktionalistischer Religionsbegriff
Fokus auf die Funktion einer Religion
Das Phänomen Religion wird über seine Funktion für den Einzelnen bzw. für die Gesellschaft definiert. Funktionalistische Religionsdefinitionen machen eine Aussage darüber, welche individuellen und gesellschaftlichen Leistungen durch eine Religion übernommen werden.
Beispiele für solche Funktionen sind: Sinnstiftung, Identitätskonstitution, Wertevermittlung, Bewältigung schwieriger Lebensumstände (Kontingenzbewältigung), Befriedigung von (inneren und äusseren) Bedürfnissen, wie z.B. Erklärung der Welt und des menschlichen Daseins, Trost, Stabilisierung von Emotionen, etc., aber auch innerer Zusammenhalt und Kontinuität der Gesellschaft. ↑
Eine schwergewichtig funktionalistische Religionsdefinitionen könnte z.B. wie folgt lauten:
„Eine Religion ist ein sich auf übernatürliche Mächte beziehendes System, das dem Menschen über die Vermittlung eines Lebenssinns eine geistige Ausrichtung und emotionale Stabilität verleiht, ihm bzw. ihr bei der Bewältigung schwieriger Lebensumstände hilft sowie über die Vermittlung von ethisch-moralischen Werten die Gesellschaft stabilisiert.“ ↑
Diskussion
In der Religionssoziologie, der Religionsethnologie und der Religionswissenschaft wird in der Regel ein funktionalistisches Religionsbegriff benutzt. Dem Ansatz werden jedoch die folgenden Schwächen attestiert:
- Die durch eine Religion abgedeckten Funktionen können oft auch von anderen Institutionen wahrgenommen werden, z.B. von Menschenrechtsgruppen, sozialen Institutionen, etc. Selbst Fussball kann bei vielen Menschen quasi-religiöse Bedürfnisse befriedigen.
- Der Bezug zum Übernatürlichen, Heiligen und Transzendenten ist nicht notwendigerweise Teil der Definition. Damit geht ein wichtiger Aspekt des mit Religion umschriebenen Phänomens verloren.
- Es besteht die Gefahr, dass Religionen viele verschiedene, sich teilweise sogar widersprechende Funktionen zugeschrieben werden. ↑
Substanzialistische und funktionalistische Definitionen
Kombination von Substanz und Funktion
In der Praxis verfügen Religionen sowohl über substanzialistische als auch funktionalistische Elemente. Dies lässt sich in den bekannten Religionsdefinitionen des französischen Soziologen Emile Durkheim (1858 – 1917) und des amerikanischen Ethnologen Clifford Geertz (1926 – 2006) gut aufzeigen. Beide Definitionen enthalten sowohl substanzialistische als auch funktionalistische Elemente (gemäss dem Ethnologen Johannes Quack):
„Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören.“ (Emile Durkheim) ↑
„Religion ist (1) ein Symbolsystem, das darauf zielt, (2) starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, (3) indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und (4) diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, dass (5) die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen.“ (Clifford Geertz) ↑
Diskussion
- Durch die Kombination von Substanz und Funktion entstehen umfassende Definitionen, die das Phänomen Religion besser umschreiben, als einzig auf die Substanz oder die Funktion bezogene Definitionen.
- Dem Ansatz von Clifford Geertz wird vorgeworfen, den spezifischen historischen und kulturellen Kontext, in dem Religionen entstanden sind, zu wenig zu berücksichtigen. Religionen müssten als sozialer und kultureller Konstruktionsprozess betrachtet werden, der eng mit Machtverhältnissen und historischen Kontexten verbunden ist (vgl. dazu Talal Asad zu Clifford Geertz). Die Kritik von Asad gilt analog auch für die Definition von Durkheim. ↑
Multidimensionale bzw. polythetische Religionsdefinition
Definition über eine Liste von möglichen Merkmalen
Eine Religion lässt sich nicht wie ein Alltagsgegenstand, z.B. ein Tisch, beschreiben. Religionen bestehen aus einem komplexen Zusammenspiel von vielen unterschiedlichen Elementen, die nicht ohne weiteres generalisiert werden können. In einer polythetischen Religionsdefinition wird deshalb eine Auswahl an Merkmalen oder Dimensionen bestimmt, die in verschiedenen Religionen in unterschiedlicher Ausprägung vorhanden sein können. Der Ansatz basiert auf dem Konzept der „Familienähnlichkeit“ (Ludwig Wittgenstein).
Kein Element hat alle Familienmerkmale, aber jedes Element hat ausreichend viele Familienmerkmale. ↑
Bei dem Ansatz müssen erst eine Reihe von Familienmerkmalen bestimmt werden, die als typisch für Religionen gelten können. Dabei wird von gesellschaftlichen Erscheinungen ausgegangen, die unbestrittenermassen als Religionen gelten (sog. Prototypen). Auf der Basis dieser Prototpyen wird eine Liste von möglichen Merkmalen bestimmt. Anhand der jeweiligen Ausprägung dieser Merkmale, lässt sich eine Aussage darüber machen, inwieweit eine bestimmte gesellschaftliche Erscheinung dem nahe kommt, was man als Religion bezeichnen könnte. Dabei müssen nicht alle Merkmale im gleichen Ausmass erfüllt sein, um von einer Religion zu sprechen. Man kann sich beispielsweise darauf einigen, dass von einer Religion gesprochen werden kann, wenn z.B. 4 von 6 Elementen stark und 2 Element schwach oder nicht ausgeprägt sind.
Beispiel für einen polythetischen Ansatz
Ein Beispiel für einen polythetischen Ansatz ist die mehrdimensionale Definition von Ninian Smart:
- Rituale (im Sinne einer Form von äusserem Verhalten, das auf eine innere Absicht abgestimmt ist, mit der unsichtbaren Welt in Kontakt zu treten oder an ihr teilzuhaben).
- Mythen (Sammlung von Bildern und Geschichten, durch die die unsichtbare Welt symbolisiert wird, z.B. Geschichten über Gott / die Götter sowie über historische Ereignisse von religiöser Bedeutung).
- Doktrin (philosophisch/theologisch/dogmatischer Rahmen um die mythologische / symbolische Sprache des religiösen Glaubens sowie der Rituale).
- Ethischer Kodex einer Religionsgemeinschaft.
- Soziale Institutionalisierung einer Religionsgemeinschaft.
- Religiöse Erfahrungen (mit der übernatürlichen, unsichtbaren bzw. transzendenten Welt).
NB. Der letzte Punkt ist explizit rekursiv, da einerseits Religionen über religiöse Erfahrungen definiert sind und andererseits religiöse Erfahrungen in aller Regel mit Religion assoziiert werden. Religion wird also durch eine Eigenschaft definiert, die mit Religion gleichgesetzt ist, d.h. Religion wird durch sich selbst definiert. Die anderen Punkte sind potentiell rekursiv. ↑
Diskussion
- Die Auswahl der Merkmale setzt einen Entscheid voraus, welche Merkmale eine Religion beschreiben können und welche nicht. Dieser Entscheid ist diskussionswürdig.
- Bei der Definition der Merkmale wird von einem Prototypen von Religion ausgegangen, d.h. man nutzt eine bereits bestehende Vorstellung von Religion, um Religion zu definieren. Das kann als rekursives Verfahren kritisiert werden.
- Der verwendete Prototyp von Religion ist nicht notwendigerweise allgemein akzeptiert.
- Der Entscheid, welche bzw. wie viele der Merkmale in welchem Ausmass vorhanden sein müssen, um von einer Religion zu sprechen, ist diskussionswürdig.
- Fazit. Mit dem Ansatz lässt sich schwerlich eine allgemeingültige und griffige Definition von Religion schaffen. Dies ist angesichts der Komplexität des Phänomens auch schwer möglich. Mit dem Ansatz lässt sich aber immerhin eine Aussage darüber machen, inwieweit eine gesellschaftliche Erscheinung einem spezifischen Prototyp von Religion nahe kommt. ↑
Das Religionsverständnis von espirit
Aus Sicht von espirit bietet der multidimensionale Ansatz einer Religionsdefinition trotz der bekannten Schwächen (siehe oben) eine gute Basis für eine einer Definition nahe kommenden Beschreibung davon, was unter einer Religion verstanden werden kann. In Anlehnung an den polythetischen Ansatz von Ninian Smart könnte eine solche Definition von Religion wie folgt aussehen:
Eine Religion ist eine gesellschaftliche Erscheinung, die sich durch die folgenden Merkmale auszeichnet, wobei diese Merkmale zwar alle vorhanden sein müssen, je nach historischem, kulturellem und sozialen Kontext aber unterschiedlich ausgeprägt sein können:
-
- Bezug zu einer unsichtbare Welt bzw. einem heiligen bzw. absoluten Prinzip, wie z.B. Gott oder Brahman, das nicht in rationale Konzepte fassbar, aber grundsätzlich erfahrbar ist.
- Mythen, Symbole und Geschichten über das Absolute bzw. die unsichtbare Welt sowie deren Bezug zu Mensch und Kosmos.
- Doktrin bzw. philosophisch/theologisch/dogmatischer Rahmen, in dem die Mythen, Symbole und Geschichten bzw. das Absolute sowie dessen Bezug zu Mensch und Kosmos in Form von rationalen Konzepten erklärt wird.
- Spirituelle Praktiken und Rituale – im Sinne einer Form von äusserem Verhalten, das auf die innere Absicht abgestimmt ist, mit dem heiligen bzw. absoluten Prinzip, in Kontakt zu treten und an ihm teilzuhaben.
- Ethischer Kodex, der festlegt, was als gut oder schlecht anzusehen ist.
- Institutionalisierung der religiösen Gemeinschaft. ↑
Diskussion
- Der Ansatz ist insofern restriktiver als derjenige von Smart, als alle Merkmale vorhanden sein müssen. Damit wird vermieden, dass zentrale Aspekte, wie z.B. der Bezug zu einem transzendenten absoluten Prinzip wegfällt. Damit wird einerseits die Definition geschärft, andererseits besteht jedoch die Gefahr, dass gewisse als religiös verstandene Bewegungen oder Kulte ohne Bezug zum Absoluten aus der Definition ausgeschlossen werden. Bei strenger und konservativer Auslegung könnte dies sogar den Buddhismus betreffen (zumindest den Theravada-Buddhismus, der die Existenz eines Absoluten strikt ablehnt).
- Die Definition beschreibt zwar das Phänomen Religion über verschiedene Merkmale, macht jedoch nur eine beschränkte Aussage darüber, was eine Religion eigentlich ist. ↑
Literatur
Asad, Talal. 2002 [1982]. „The Construction of Religion as an Anthropological Category.“ In A Reader in the Anthropology of Religion, Hrsg. Michael Lambek, 114-132. Oxford: Blackwell.
Durkheim, Emile. 1981 [1912]. Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Geertz, Clifford. 2002 [1966]. „Religion as a cultural system.“ In A Reader in the Anthropology of Religion, Hrsg. Michael Lambek, 61-82. Oxford: Blackwell.
Rennie, Bryan S. „The view of the invisible world: Ninian Smart’s analysis of the dimensions of religion and of religious experience.“ Bulletin/CSSR 28.3 (1999): S. 63 – 69.
Schlieter, Jens. „Das Konzept ‚Religion’: Zur Diskussion um eine operationale Definition.“ NFP 58: Tagung „Konzepte“, 23.02.2009: S. 21 – 28.
Stausberg, Michael: Religion. Begriff, Definitionen, Theorien, in: Michael Stausberg (Hg.), Re-ligionswissenschaft, Berlin; Boston: De Gruyter, 2012, 33-47. ↑