Gesinnungsethik / Pflichtethik (Deontologische Ethik)

Was ist unter „Gesinnungsethik“ zu verstehen? Führt eine gute Gesinnung immer zu guten, ethisch verantwortbaren Entscheiden? In welchen Fällen kann die Gesinnungsethik zu moralischen Konflikten führen? Wie würde man z.B. die Covid-Impfplicht aus der Perspektive der Gesinnungsethik beurteilen?

Inhaltsverzeichnis

Grundlagen

Was Vernunft und Gewissen im Grundsatz als gut, gerecht und verallgemeinerbar erkennen, muss ohne Rücksicht auf die möglichen Folgen getan werden. Normative Sätze, Gebote und Verbote haben dabei Vorrang vor einer abwägenden Beurteilung der Handlungsfolgen.

Der Kategorische Imperativ

Der vom deutschen Philosophen Immanuel Kant geprägte Ansatz geht davon aus, dass der Mensch einen autonomen Willen hat, der sein Handeln prägt. Gemäss Kant ist der Wille ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft als praktisch notwendig erachtet – unabhängig von persönlichen Neigungen. Ein vollkommen guter Wille würde nach Ansicht von Kant ohne äusseren Zwang das nach objektiven Gesetzen Gute tun, d.h. der Wille jedes vernünftigen Menschen stimmt mit demjenigen eines allgemein gesetzgebenden Willens überein. Nach Kant gilt eine Handlung dann als sittlich richtig, wenn sie Maximen bzw. einer Gesinnung folgt, die in sich gut sind (z.B. ‚Leben schonen‘, ‚die Wahrheit sagen‘, ’nicht zu lügen‘, etc.). Die Maximen selbst müssen mit dem ‚Kategorischen Imperativ‘ begründbar sein. Die bekannteste Form des Kategorischen Imperativs lautet wie folgt:

„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Immanuel Kant

Der kategorische Imperativ geht davon aus, dass aus gutem Willen und Vernunfteinsicht ein autonomer Entscheid bzw. die innere Pflicht zu objektiv guten Handlungen entsteht.  

Die Menschenwürde – Praktischer Imperativ

Der Mensch hat einen Zweck an sich. Dabei bilden die Vernunft und die Autonomie des Menschen, sich selbst Gesetze geben zu können, die Grundlage für dessen Menschenwürde. Vernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, dass sie sich selbst und alle anderen niemals bloss als Mittel, sondern als Zweck an sich behandeln sollten. Der Mensch hat deshalb keinen Preis. Wenn wir einem Menschen die Würde absprechen, dann sprechen wir implizit allen Menschen die Würde ab. Eine der drei Formulierungen des Kategorischen Imperativs lautet deshalb wie folgt:

„Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck niemals bloss als Mittel brauchst.“

Immanuel Kant

Die Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls

Eine weitere Spielart der Deontologischen Ethik ist die Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls. Der Ansatz von John Rawls basiert auf der Fiktion eines Urzustandes, der durch einen „Schleier des Nichtwissens“ geprägt sind: Um zu einem ethisch gerechten Urteil zu kommen, stellen wir uns vor, dass wir kein Wissen über unser Einkommen, Vermögen, gesellschaftlichen Status, individuelle Vorlieben, Abneigungen, etc. haben. Auf dieser Basis verständigen wir uns darüber, welches die Regeln einer gerechten Gesellschaft sein sollen. Wir werden damit genötigt, in ein ethisches Urteil die Perspektiven sämtlicher möglicherweise betroffenen Menschen einzubeziehen und allfällige Standes-Egoismen auszublenden. 

Diskussion

Führt eine gute Gesinnung immer zu vertretbaren ethischen Entscheiden?

Die mit dem Kategorischen Imperativ begründeten Handlungsmaximen sowie daraus abgeleitete Gebote und Verbote können im Einzelfall zu ethisch fragwürdigen Entscheiden führen: Lügen beispielsweise wird allgemein als schlecht und damit unethisch angesehen. Kant würde sich auf den Standpunkt stellen, dass die Pflicht nicht zu lügen Vorrang vor solchen Abwägungen hat. Es sind aber Situationen denkbar, wo die Mehrzahl der Menschen eine Lüge als das kleinere Übel ansehen würde, v.a. im extremen Fall, wenn eine Lüge Menschenleben retten könnte.  Muss auch in einer solchen Situation Lügen als sittlich schlecht beurteilt werden? In welchen Fällen ist Lügen aus ethischer Sicht vertretbar? In welchen nicht?
Beispiel: Eine Gruppe von Extremisten macht Jagd auf die Vertreter einer religiösen Minderheit. Ist es ethisch vertretbar, wenn ich den Verfolgern eine Lüge auftische und sie in die falsche Richtung schicke? 

Schwieriger zu beurteilen sind Situationen, wo aktiv in die körperliche Integrität von Menschen eingegriffen wird, z.B. bei der gezielten Tötung eines Amokläufers oder der Androhung von harten Verhörmassnahmen zur Rettung von Leben.
Beispiel: Ist die Androhung von Folter beim Verhör eines Kindsentführers ethisch vertretbar, wenn noch eine Chance besteht, das Kind lebend zu bergen? 

Herausforderung: Konflikte zwischen positiven Maximen

In den o.g. Beispielen geraten die gleichermassen mit dem Kategorischen Imperativ begründbaren Maximen der Ehrlichkeit, der Gerechtigkeit sowie der Achtung vor der menschlichen Würde in Konflikt. Welche Maxime wiegt im Einzelfall schwerer? Wer kann das entscheiden?

Das Töten oder Foltern von Menschen verletzt die » Menschenwürde und ist u.a. in der Schweiz und in Deutschland gemäss Verfassung bzw. Grundrecht verboten. Aus einer strikt deontologischen Sicht lassen sich Tötungen und Folter auch dann nicht rechtfertigen, wenn sie Leben retten könnten und somit, zumindest aus einer utilitaristischen Perspektive (» Konsequenzialismus), das scheinbar kleinere Übel darstellen würden. 

Beispiele Dilemmasituationen

Flugzeugabschuss

Im » andernorts vorgestellten Beispiel hat das deutsche Bundesverfassungsgericht im Februar 2006 im Sinne eines deontologischen Ethikverständnisses entschieden, dass ein von Selbstmordattentätern entführtes Passagierflugzeug auch im äussersten Notfall nicht abgeschossen werden darf – auch dann nicht, wenn es als Waffe eingesetzt werden sollte und das Leben von hunderten von Menschen am Boden gefährdet wäre (siehe » 9/11). Ein solcher Abschuss würde gegen die verfassungsmässig garantierte » Menschenwürde sowie das Recht auf Leben und die körperliche Unversehrtheit verstossen. Die Passagiere und Besatzungsmitglieder würden im Fall eines staatlich verordneten Abschusses als Objekte behandelt. Sie würden „verdinglicht und zugleich entrechtlicht“. Zudem sei es schwer mit Sicherheit vorherzusagen, ob es für die Menschen an Bord einer solchen entführten Maschine noch eine Überlebenschance gebe oder nicht. (» Pressemitteilung Bundesverfassungsgericht)

Diskussion

Die Argumentation des Verfassungsgerichts ist gewiss stringent, wirkt aber etwas dogmatisch. Der mögliche Tod von vielen weiteren unbeteiligten und unschuldigen Menschen am Boden wird stillschweigend in Kauf genommen. Deren Recht auf Leben und damit deren Menschenwürde fliesst nicht in die Betrachtung ein. Angesichts der Tatsache, dass die Menschen im Flugzeug mit grosser Wahrscheinlichkeit ohnehin sterben werden, ist der Entscheid zumindest diskussionswürdig. 

Covid-19 Pandemie

Im Fall der Covid-19 Pandemie bestanden u.a. folgende ethische Spannungsfelder:

  • Schutz des Lebens und Fürsorge für die Mitwelt vs. Schutz der verfassungsmässig garantierten Freiheitsrechte.
  • Schutz des Lebens und Fürsorge für die Mitwelt vs. Negative Auswirkungen eines Lockdown von Wirtschaft und Gesellschaftsleben.
  • Schutz von Menschenwürde und körperlicher Unversehrtheit vs. Schutz des Lebens und Verhinderung von wirtschaftlichen Schäden mittels (impliziter) Impfpflicht.
  • Abweisung von älteren Covid-19 Patienten mit wenig Überlebenschancen (Triage) im Fall von überlasteten Intensivstationen vs. Recht auf Leben.
  • Von den politischen Exekutiven ohne gesetzlich Grundlagen ergriffene Massnahmen vs. demokratische Legitimation (zu Beginn der 1. Welle).

Diskussion

Aus der Perspektive eines strikt deontologischen Ethikverständnisses würde mit grosser Wahrscheinlichkeit die Maxime, wenn immer möglich Leben zu retten, höher gewichtet als die Einschränkung der freiheitlichen Grundrechte der Bevölkerung und die schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgekosten eines Lockdowns. Auch stark einschränkende Massnahmen und ihre Folgen für Gesellschaft und Wirtschaft würden aus dieser Perspektive kaum in Frage gestellt, höchstens vielleicht deren fehlende demokratische Legitimation. Aus einer rein deontologischen Perspektive liessen sich deshalb erhebliche Einschränkungen der persönlichen Freiheit rechtfertigen, wenn sie das Leben von Menschen schützen können. Die Frage ist jedoch, ob dies auch für eine allgemeine Impfpflicht gelten würde. 

Wie würde eine allgemeine Impfpflicht aus deontologischer Sicht beurteilt? 

Auch wenn dies von Impfgegnern immer wieder bestritten oder zumindest in Frage gestellt wird, so ist nach aktuellem Stand des Wissens eine möglichst weitgehende Durchimpfung der Bevölkerung inkl. Kinder und Jugendliche der schnellste und wirkungsvollste Weg aus einer Pandemie. Die Evidenz ist eindeutig: Die Impfung schützt vor einer schweren Covid-19-Erkrankung und sie hindert die Krankheit ein Stück weit an der Ausbreitung. Wenn die Mehrheit der Menschen geimpft ist, hat das spürbare Auswirkungen auf den Verlauf einer Pandemie. Nun ist impfen zwar eine persönliche Entscheidung, aber keine Privatsache, denn die Konsequenzen der Nichtimpfung sind für die Gesellschaft erheblich. Es profitieren letztlich alle Menschen von einer hohen Impfquote: Das Risiko einer Spitalbehandlung und damit die Belastung des Gesundheitswesens sinkt, die Gefahr der Ausbildung von Mutationen ist vermutlich geringer, die wirtschaftlichen Kosten sind kleiner und die Einschränkungen der persönlichen Freiheit durch verschiedene Schutzmassnahmen kürzer. Zudem ist die Anzahl der notwendigen und für die Betroffenen belastenden Triagen kleiner, d.h. das Gesundheitspersonal ist nicht gezwungen zu entscheiden, wer in die Intensivpflege kommt und wer de facto zum Sterben verurteilt ist.

Auf der anderen Seite gibt es in Teilen der Bevölkerung ernst zu nehmende Ängste und Vorbehalte gegenüber der Impfung. Das Injizieren einer Substanz in einen gesunden Körper wird als Eingriff in die körperliche Integrität und somit als Angriff auf die Menschenwürde wahrgenommen. Zudem haben viele Menschen Angst vor genmanipulierten Substanzen und vor eventuellen langfristigen Schäden durch die Impfung. Es wird auch kritisiert, dass die Covid-Impfungen von den Gesundheitsbehörden viel zu schnell und auf der Basis einer zu kleinen Zahl von Testergebnissen freigegeben wurden. Religiöse Menschen stossen sich zudem daran, dass für die Herstellung von Impfstoffen teilweise auf Zellkulturen zurückgegriffen wurde, die von abgetriebenen Föten stammen.

Die Befürchtungen lassen sich zwar weitgehend, aber nicht vollständig entkräften: Ein kleiner Prozentsatz an Geimpften trägt tatsächlich mittel- bis langfristige Impfschäden davon. Genaue Zahlen sind zurzeit nicht bekannt, das Thema wird von Behörden und Forschung nur schleppend aufgearbeitet. Es ist zwar korrekt, dass die Impfungen teilweise in Eilverfahren freigegeben wurden, die Freigaben erfolgten jedoch auf der Basis eines geordneten Prozesses und von seriösen Testreihen. Es besteht aus heutiger Sicht kein Anhaltspunkt dafür, dass die Impfung unser Genom verändern. Es werden auch keine Föten mit dem Zweck abgetrieben, Zellkulturen für die Impfstoffherstellung zu verwenden.

Im vorliegenden Fall geraten die gleichermassen mit dem Kategorischen Imperativ begründbaren Maximen der Achtung vor der menschlichen Würde, der Achtung vor der Unversehrtheit des eigenen Körpers, der Religionsfreiheit sowie der persönlichen Freiheit in Konflikt mit der Maxime der Verantwortung gegenüber den Mitmenschen und dem Gemeinwesen. Im Kontext der individualistischen westlichen Kultur, in der die Menschenrechte einen hohen Stellenwert aufweisen, wiegt die Achtung vor der Menschenwürde schwer. Das Injizieren einer Substanz in einen gesunden Körper wird anders wahrgenommen als beispielsweise das Anhalten vor einer roten Ampel. Kommt hinzu, dass eine allgemeine Impfpflicht die Spaltung der Gesellschaft vertiefen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt schwächen würde.

Fazit

Aus einer strikt deontologischen Sicht liesse sich eine gesetzlich verordnete allgemeine Impfpflicht kaum rechtfertigen, da sie die Achtung vor der menschlichen Würde bis zu einem gewissen Grad in Frage stellt. Selbst eine Impfpflicht für spezifische Berufsgruppen, wie z.B. das Gesundheitspersonal, wäre deontologisch schwer zu rechtfertigen, auch wenn dieses vermehrt mit vulnerablen Menschen zu tun hat, die im Fall einer Infektion sterben könnten. Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und eine erhöhte Kostenbeteiligung für nicht Geimpfte im Fall einer Intensivbehandlung hingegen wären aus einer deontologischen Perspektive durchaus zu rechtfertigen.